“Warum soll eine Sekretärin im Büro nebenan nur 30 Minuten jeder ihrer Arbeitsstunde bezahlt bekommen, wenn Fachleuten zwei Stunden für jede ihrer Arbeitsstunden bezahlt werden? Die Sekretärinnen und Putzfrauen würden bald sagen: Jetzt reicht es! Was ist das für ein Sozialismus, bei dem einer von Euch so viel wert ist wie vier von uns?” [10]
Gegen die Arbeitszeitrechnung wird eingewandt, dass sie als Wirtschaftsrechnung ungeeignet sei, weil es über sie nicht möglich ist, Arbeit verschiedener Qualität zu bewerten. Man könne “dem Arbeiter, der eine Stunde einfachster Arbeit geleistet hat, nicht das Recht geben, das Produkt einer Stunde höher qualifizierter Arbeit zu verzehren.” [11]
Aber genau das kann und muss der “Verein freier Menschen”. Ein einarmiger Produzent erhält im kooperativen Produktionsverhältnis für seine Arbeit den gleichen Anteil am gesellschaftlichen Produkt wie der zweiarmige Produzent.
Während dies auf der Grundlage kapitalistischer Wertrechnung unökonomisch ist, ist dies auf der Grundlage kommunistischer Arbeitszeitrechnungökonomisch. Gemäß der kapitalistischen Wertrechnung ist es auch ökonomisch, eine globale Einkaufslogistik aufzubauen, um Produkte, die auf einer Seite des Globus konsumiert werden, in sogenannten Billiglohnländern auf der anderen Seite des Globus produzieren zu lassen. Diese nach kapitalistischer Wirtschaftsrechnung effiziente Allokation der Ressourcen ist auf der Grundlage kommunistischer Arbeitszeitrechnung Verschwendung von Ressourcen.
Da im “Verein freier Menschen« nicht zwischen minderwertigen und höherwertigen Arbeitskräften unterschieden wird, kommt es auch zu keiner falschen Allokation der Produktionsmittel. Hier wird nicht in Konkurrenz gegeneinander, sondern in Kooperation miteinander der gesellschaftliche Reichtum produziert und verzehrt.
In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Arbeitskraft “eine Ware, nicht mehr, nicht minder als der Zucker. Die erste misst man mit der Uhr, die andere mit der Waage … Dieselben allgemeinen Gesetze nun, welche den Preis der Waren im Allgemeinen regeln, regeln natürlich auch den Arbeitslohn, den Preis der Arbeit. Der Lohn der Arbeit wird bald steigen, bald fallen, je nach dem Verhältnis von Nachfrage und Zufuhr, je nachdem sich die Konkurrenz zwischen den Käufern der Arbeitskraft, den Kapitalisten, und den Verkäufern der Arbeitskraft, den Arbeitern, gestaltet. Den Schwankungen der Warenpreise im Allgemeinen entsprechen die Schwankungen des Arbeitslohns. Innerhalb dieser Schwankungen aber wird der Preis der Arbeit bestimmt sein durch die Produktionskosten, durch die Arbeitszeit, die erforderlich ist, um diese Ware, die Arbeitskraft, hervorzubringen. Welches sind nun die Produktionskosten der Arbeitskraft? Es sind die Kosten, die erheischt werden, um den Arbeiter als Arbeiter zu erhalten und um ihn zum Arbeiter auszubilden. Je weniger Bildungszeit eine Arbeit daher erfordert, desto geringer sind die Produktionskosten des Arbeiters, umso niedriger ist der Preis seiner Arbeit, sein Arbeitslohn. In den Industriezweigen, wo fast gar keine Lernzeit erforderlich ist und die bloße leibliche Existenz des Arbeiters genügt, beschränken sich die zu seiner Herstellung erforderlichen Produktionskosten fast nur auf die Waren, die erforderlich sind, um ihn am arbeitsfähigen Leben zu erhalten. Der Preis seiner Arbeit wird daher durch den Preis der notwendigen Lebensmittel bestimmt sein.” [12]
Mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel wird demgegenüber die Aufrechterhaltung des sachlichen Teils des Produktionsapparates ebenso wie die Reproduktion der Arbeitskraft zur gesellschaftlichen Funktion.
Sie wird nicht mehr den einzelnen Individuen aufgebürdet, sondern von der Gesellschaft getragen. Die Ausbildung ist daher auch nicht mehr gebunden an den Geldbeutel der Eltern, sondern allein abhängig von Veranlagung und physischer Beschaffenheit des Kindes.
Im “Verein freier Menschen” wird das allgemeine Ausbildungswesen von der Kita über die Grundschule bis zur Universität nach dem Prinzip “Nehmen nach Bedarf” ohne ökonomisches Maß von der Gesellschaft zur Verfügung gestellt. Ähnlich wie die Aufwendungen für die Grundlagenforschung nicht den einzelnen Gütern als Aufwand zugerechnet werden, sondern lediglich den Umfang der individuellen Arbeitszeitkonten verringern, wird auch der Aufwand für das allgemeine Bildungswesen als eine von allen zu tragende gesellschaftliche Dienstleistung organisiert.
In der kommunistischen Gesellschaft hat es daher ökonomisch keinen Sinn, über das allgemeine Ausbildungswesen höher qualifizierte Arbeit dem Produkt anders zuzurechnen als weniger qualifizierte Arbeit.
Da die Trennung zwischen den Arbeitskräften und den Produktionsmitteln aufgehoben ist und somit die Arbeitskraft keine Ware mehr ist, kann auch von Reproduktionskosten der Arbeitskraft nicht mehr die Rede sein. Das gesellschaftliche Produkt dient gleichermaßen allen Gesellschaftsmitgliedern zur Bedürfnisbefriedigung.
Beim Berechnen der Produktionszeit können daher die verausgabten Arbeitsstunden in ihrer tatsächlichen Quantität eingehen, während jeder Arbeiter die wirkliche Zahl seiner aufgewandten Arbeitsstunden abzüglich der Arbeitszeit für die gemeinschaftlichen Fonds auch wieder dem gesellschaftlichen Produkt entzieht. […]
Beiträge der Serie
Kapitalismuskritik und die Frage nach der Alternative
Teil 1: Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel
Teil 2: Der Verein freier Menschen
Teil 3: Jedem nach seinen Bedürfnissen
Teil 4: Jeder nach seinen Fähigkeiten
Teil 5: Lasst uns die Zukunft verändern

Informationen zum Buch
Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung
Autor: Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland)
Genre: Wirtschaft/Politik
Sprache: Deutsch
Seiten: 339
Veröffentlichung: Februar 2020 (Deutsche Erstausgabe der 2. Auflage von 1935)
Verlag: Red & Black Books
Bezug: Syndikat A
ISBN: 978601283687
Quellen und Anmerkungen
[10] W. P Cockshott, A. Contrell, Alternativen aus dem Rechner. Für sozialistische Planung und direkte Demokratie, PapyRosa Verlag 2006, S. 65. ↩
[11] Ludwig von Mises, Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus, Jena Verlag von Gustav Fischer 1922, S. 147. ↩
[12] Karl Marx, Friedrich Engels, Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S. 399/406. ↩
Reden wir miteinander
Haben Sie Fragen an den Autor? Bitte schreiben Sie uns!
HINWEIS: Bitte beachten Sie unsere Informationen zum Datenschutz.
Illustration und Buchcover: Neue Debatte und Syndikat A
Hermann Lueer ist Autor und Herausgeber kapitalismuskritischer Literatur. Zuletzt erschienen von ihm 'Große Depression 2.0: Argumente gegen den Kapitalismus' und 'Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung'.