Maxim Gorki war es, der sich dafür stark machte, dass die zu Zeiten des Umbruchs und der Oktoberrevolution aufblühenden Kräfte der Literatur ein Zuhause fanden [1]. Nach der Revolution wurde in Sankt Petersburg ein Haus requiriert, in das sie einzogen. Obwohl sie nicht besser gestellt waren wie die andern Bürgerinnen und Bürger und ebenso auf Essensmarken und rationierten Brennstoff zählen mussten, so hatten sie doch eine Bleibe und einen renommierten Schutz.
Die Idee der Avantgarde
Aufgrund des Papiermangels war an Publikation nicht zu denken. So wurde aus einer Wohngemeinschaft kreativer, teilweise chaotischer und auf jeden Fall innovativer Kräfte ein Konsortium für das, was getrost als russische Avantgarde bezeichnet werden kann.
Die Autorin des Romans “Russisches Narrenschiff”, Olga Forsch, kam selbst aus der Malerei und wandte sich während der Revolution der Literatur zu [2]. Sie kannte das schon bald berüchtigte Haus aus eigener Erfahrung. Und sie gab dem Roman, der als ein Referenzstück der Avantgarde gelten kann, den Namen des Hauses, den es von der Bevölkerung sehr schnell bekam: Russisches Narrenschiff.
Der Roman selbst ist als ein methodologisches Dokument dessen zu betrachten, was sich auf dem Narrenschiff abspielte. Es geht um unterschiedliche Erzählweisen, um klassische Epik, um soziale Reportage, um Montage, um Traumszenen, um Bühnen-Slaps und um Bekenntnisse. Die geografischen Orte, von denen die Autorin das Haus der Literatur beleuchtet, wechseln, so dass ein Multiperspektivismus entsteht, der notwendig ist, um die Idee der Avantgarde aufzusaugen.
Die praktische Kollision
Leichte Kost ist das nicht. Und hinzu kommt, dass sich hinter den Figuren tatsächliche Größen der damaligen, zeitgenössischen Literatur verstecken, die, zumindest für das deutsche Lesepublikum, teilweise nur über das exzellente Register erschlossen werden können. Anna Achmatowa, Andrej Bely, Alexander Blok, Alexander Grin, Ilja Ionow, Lew Lunz, Wadimir Majakowski, Nadeshda Pawlowitsch, Boris Pilnjak, Jelisaweta Polonskaja, Jewgeni Samjatin, Viktor Schlklowski, um nur einige zu nennen.
Neben den unterschiedlichen Genres und Sujets, mit denen jongliert wird wie in einem großartigen Varieté, wird mit jeder Zeile deutlich, in welcher historischen Situation sich das Ganze abspielt. Und es kommen unweigerlich die Worte eines Karl Marx ins Gedächtnis, der in der deutschen Ideologie die Situation beschrieb, wenn es zwischen verschiedenen Klassen um die Macht ging. Er nannte diesen Zustand die praktische Kollision.
Dann, so räsonierte er, ginge es in den Kreisen, die sozial schwer und als Klasse gar nicht beschrieben werden können, nämlich den Künstlern, den Wissenschaftlern, den Philosophen, darum, auf welche Seite sie sich schlügen. Um es populär auszudrücken: Wenn es um die Macht geht, dann spielen Fragen der Ästhetik keine Rolle.
Das Narrenschiff
Olga Forsch hatte das früh begriffen. Nicht umsonst wählte sie für den Roman Abschnitte, die sie als Wellen zählte. Das Werk endet mit der neunten Welle, bei den Seefahrern bekannt als die gefährlichste bei schwerem Wetter. Die Literaten, die in diesem Haus wohnten, belegen mit ihren Biografien, in welchen Zeiten sie dieses Haus als Labor für ihre Visionen nutzen durften. Manche verzweifelten und brachten sich um, andere landeten im Gefängnis oder gingen ins Exil und einige überlebten im neuen Russland.
Olga Forsch selbst blieb und wurde ein angesehenes Mitglied des Schriftstellerverbandes. Ihre Werke wurden veröffentlicht. Mit Russisches Narrenschiff tat man sich schwer. Es erschien 1931 in kleiner Auflage und dann erst wieder 1964, während der Tauwetter-Periode. Oft hat Geschichte ein kurioses Regiebuch: Ohne Avantgarde kommt es nicht zum Wandel. Und während des Wandels hat es gerade die Avantgarde besonders schwer.
Informationen zum Buch
Russisches Narrenschiff
Autor: Olga Forsch
Genre: Historischer Roman
Sprache: Deutsch
Seiten: 324 Seiten
Veröffentlichung: 1931 (Neuauflage 2019)
Verlag: Die Andere Bibliothek
ISBN: 978-3-847-70421-8
Weiterführende Informationen
Haus der Künste: In Sankt Petersburg (von 1924 bis 1991 Leningrad) gründete der Schriftsteller Maxim Gorki (1886-1936) das “Haus der Künste”. Maler, Philosophen und Schriftsteller lebten gemeinsam mit Arbeitern in dem Haus. Zusammen sicherten sie ihre Existenz in den Jahren des Bürgerkriegs. 1923 wurde das Haus aufgelöst.
Maxim-Gorki-Literaturinstitut: Auf Anregung Gorkis wurde 1933 in Moskau eine berufsbegleitende Arbeiteruniversität gegründet. Diese wurde nach dem Tod Gorkis in Maxim-Gorki-Institut für Literatur umbenannt. Es existiert bis heute und brachte herausragende Autorinnen und Autoren hervor.
Studierende: Aktuell rund 740 (500 im normalen Studium und 240 im Fernstudium)
Ausbildung: U.a. Schriftsteller, Dichter und Übersetzer von Literatur.
Fakultäten: Zwei (normales Studium und Fernstudium)
Namhafte Absolventen: U.a. Anatoli Andrejewitsch Kim (Autor zum Beispiel von „Das Zwiebelfeld“ und „Lotos“), Ak Welsapar (Schriftsteller und Journalist), Jurij Andruchowytsch (Dichter, Essayist und Übersetzer), Renata Verejanu (Schriftstellerin), Polina Daschkowa (Krimiautorin).
Anschrift: Russland, 123104 Moskau, Tverskoy Boulevard 25
Homepage: www.litinstitut.ru
Quellen und Anmerkungen
[1] Christopher Read (2014): Revolutions (Russian Empire). Auf https://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/revolutions_russian_empire (abgerufen am 12.7.2020). ↩
[2] Olga Dmitrijewna Forsch (1873-1961) war eine russische Schriftstellerin. Ihre Romane drehten sich vor allem um revolutionäre Figuren aus der Zeit vor 1917. In den 1890er Jahren studierte sie Kunst in Kiew, Odessa und Sankt Petersburg. Nach der Oktoberrevolution ging sie nach Moskau.
Forsch beteiligte sich an der Umgestaltung des Schulwesens und kehrte in den frühen 1920er Jahren wieder nach Sankt Petersburg zurück. Sie wendete sich dem historischen Roman zu, erlangte wichtige Erfolge und nahm eine führende Rolle im sowjetischen Literaturbetrieb ein. Als Kommunistin verhielt sie sich loyal gegenüber dem sowjetischen Staat. ↩
Reden wir miteinander
Haben Sie Fragen an den Autor? Bitte schreiben Sie uns!
HINWEIS: Bitte beachten Sie unsere Informationen zum Datenschutz.
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Praktische Kollision und Avantgarde“
Danke. Darüber wusste ich bislang nichts.