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Meinung

Stuttgart und die Lufthoheit

Der Kampf um die Lufthoheit hat, betrachtet man das Beispiel Stuttgart, wieder einmal zu keinen guten Ergebnissen geführt.

In politischen Kreisen kursierte für eine gewisse Zeit die Metapher, man müsse bei bestimmten Themen die Lufthoheit erobern, um mit den eigenen Vorstellungen dominieren zu können. Das Bild stammt aus dem Luftkrieg und beschreibt die Denkweise, die vorherrschte und in gewissen Kreisen noch herrscht.

Die Ereignisse in Stuttgart

Grundsätzlich ist die Betrachtung aufschlussreich. Wer von den politischen Akteuren ist in der Lage, ein Thema so zu besetzen, dass die Interpretation eines Phänomens und die angebotenen Lösungsansätze eine Chance haben, eine politische Strategie vor der Bevölkerung zu legitimieren? Ein Beispiel aus dem realen Leben, das die Gemüter erhitzt und das noch einige Zeit eine Rolle spielen wird, sind die Ereignisse in Stuttgart.

Es ist wichtig, nicht gleich zu Beginn in der Wahl der Begriffe dem Fehler zu verfallen, sich dessen zu bedienen, um was bereits am Sprachhimmel gekämpft wird. Da sind bereits einige gefährliche Jäger zu identifizieren, ihre Namen reichen von Krawallnacht bis zu Stammbaumforschung [1]. Beides sind Geschosse aus einem Propagandakrieg, die zwar die Lufthoheit herzustellen vermögen, aber nicht in der Lage sind, irgendein Problem zu lösen. Übrigens ein Standardergebnis bei den vielen Kämpfen um die Lufthoheit.

Zumeist setzen sich Vorgehensweisen durch, die ihrerseits viel Krawall auf der Erscheinungsebene machen, zum Kern, zum Wesen eines Problems jedoch nicht vordringen. Und wer das Problem nicht erfasst, der kommt auch zu keiner Lösung. Aber die formale Logik spielt in diesem Krieg um Worte keine Rolle.

Wenn das Gewohnte provoziert

Stuttgart also. Dort hat es an besagtem Wochenende gerauscht. Die Befragung der beteiligten Parteien, nennen wir sie Polizeikräfte und Jugendliche, schildern das Geschehen anders. Die einen sagen, sie hätten nach Routinen gehandelt, die anderen, sie seien provoziert worden und dann sei die Sache eskaliert. Es wäre ratsam, genau an dieser Stelle auf detaillierteren Schilderungen zu beharren. Die exakte Beschreibung ist die beste Versicherung gegen vorschnelles Urteil.

Vielleicht nur ein Einwurf: Wenn das Vorgehen nach einer Routine, über deren Charakter hier gar nicht gestritten werden soll, auch wenn es möglich wäre, wie kann es kommen, dass das Gewohnte plötzlich provoziert? Kann es sein, dass junge Menschen, zu deren Wesen es gehört, mit sehr viel Energie geladen durch die Welt schreiten, nach einem monatelangen Lockdown über einen Ladezustand verfügen, der nahezu ein Feld der Enthemmung herbeiruft?

Und wäre es nicht sinnvoll, sich zu überlegen, wie diesem Zustand Abhilfe geschaffen werden kann? Wäre es nicht eine Frage der Solidarität mit den Jugendlichen, ihnen zu signalisieren, dass das alles nicht so einfach ist und man sich darüber austauschen müsse, wie damit umzugehen sei?

Angriff und Konter

Der Kampf um die Lufthoheit hat, betrachtet man alleine dieses Beispiel, wieder einmal zu keinen guten Ergebnissen geführt. Die mit dem Begriff der Krawallnacht ins Rennen gingen, sind für ein Konzept, mit doppelter oder dreifacher Polizeipräsenz zu antworten. Und sie decken ein Vorgehen, dass in eine Richtung führt, die nahezu schauerlich wirkt: sie lassen überprüfen, ob man das Problem nicht mehrheitlich Immigranten anhängen kann. Die Konterattacke folgte prompt mit dem Begriff der Stammbaumforschung. Und sie saß, trägt aber nicht zur Lösung des Problems bei.

Beide Positionen haben eine desaströs Richtung. Die eine führt in den Ausbau eines zunehmend im Ansehen gefährdeten Polizeiapparates, der, sollte er nicht imprägniert werden gegen den Rechtsextremismus, dabei ist, die gesellschaftliche Akzeptanz zu verlieren [2]. Die andere in eine kollektive Denunzierung exekutiven Handelns als Nazihandwerk. Erstere wiederum diskreditiert die Befindlichkeit von Jugendlichen, die in irgendwelchen Arbeiterwohnregalen monatelang eingesperrt waren. Sie als kriminelle Zeitbombe zu betrachten, wird sie nicht zurückholen in einen erforderlichen Prozess der zivilen Auseinandersetzung.

Eines ist sicher: Bleibt es bei der bellizistischen Vorstellung, man müsse mit scharfen Kampfbegriffen die Lufthoheit erobern, werden die Probleme weder richtig beschrieben, noch werden sie gelöst. Und es werden viele Stuttgarts folgen. Die Qualität der gegenwärtigen Diskussion deutet auf eine Spirale hin.


Quellen und Anmerkungen

[1] SWR (13.7.2020): Stuttgarter Krawall-Nacht: Angebliche “Stammbaumforschung” löst Debatte aus. Auf https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/stuttgart/nach-stuttgarter-krawall-nacht-polizei-prueft-stammbaum-der-verdaechtigen-100.html (abgerufen am 15.7. 2020).

[2] re:volt magazine (18.6.2020): Hinter der rassistischen Polizeigewalt. Auf https://revoltmag.org/articles/hinter-der-rassistischen-polizeigewalt/ (abgerufen am 15.7. 2020).


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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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