Bei guten Nachbarn ist es Brauch, sich bei freudigen Ereignissen jenseits der eigenen Schwelle mit Glückwünschen zu erkennen zu geben.
Drei Hasen, ein Fasan
Am 14. Juli, da habt Ihr Euren Tag. Den Tag, an dem ein Knast namens Bastille gestürmt wurde. Der war halb leer und die Ausbeute war karg. Das schien Eurem letzten König so trivial, dass er es in seinem Tagebuch keiner Erwähnung wert fand. Dass er auf der Jagd war, schien ihm wichtiger.
Am Abend des 14. Juli 1789 schrieb er den Eintrag: drei Hasen, ein Fasan. Ihr dagegen hattet das Symbol der Unterdrückung geschleift. Das hatte der Mann nicht begriffen. Sein Kopf, so wissen wir, lag dann irgendwann im Weidenkorb.
Ihr könnt, das wissen wir östlich des Rheins allzu gut, Ihr könnt verzeihen und Gnade walten lassen. Bei uns war ein Napoleon, den viele hier begrüßten und feierten, bei Euch war Hitler, der Euer Herz, Paris, noch zerstören wollte, als alles entschieden war.
Wir wissen, dass Ihr verzeihen könnt. Nur, wenn die Dummheit und die Dreistigkeit Überhand nehmen, dann werdet Ihr radikal. Und dann haut Ihr nicht nur auf den Tisch. Dann fließt das Blut in Strömen, wie Euer Kampfslogan, die direkt ins Blut gehende Marseillaise, es beschreibt. Dann gibt es kein Halten mehr. Den kulturlosen Dreisthahn, der in den Suppentopf der Gemeinschaft rotzt, dem zeigt Ihr, wie die Tischsitten sind.
Vom Instinkt zum Aufstand
Wenn Ihr den 14. Juli feiert, dann habt Ihr andere Sorgen, als Euch an den Taten zu laben, die vor 231 Jahren der gesamten westlichen Zivilisation einen neuen Weg wiesen. Zu viel habt Ihr in den letzten Jahren erlebt, als dass Ihr das beiseite legen könntet.
Die Korruption ist die natürliche Daseinsform des Kapitalismus.
Ihr habt gesehen, wie die von der Revolution geschaffenen Parteien und Institutionen erschöpft und müde wirkten, wie sich Bestechlichkeit und Dekadenz eingeschlichen hatten. Und tief in Eurem Innern, da habt Ihr einen Instinkt, angelegt an jenem Tag an der Bastille, und dieser Instinkt, der treibt Euch umgehend in den Aufstand.
Mit dem derzeitigen Präsidenten quittiertet Ihr dem gesamten System Euer Misstrauen und Eueren Überdruss.
Doch was dann kam, Ihr lieben Nachbarn, das kennen wir hier, östlich des Rheins, zur Genüge. Ihr beauftragtet einen Heilsbringer. Das kennen wir, und wir wissen, das geht nie gut aus. Nun, Ihr habt es selber ausprobiert. Euer Instinkt hat sich früh gemeldet, und bis heute musstet Ihr teuer bezahlen. Aber, dass wisst Ihr, dessen Zeit ist abgelaufen und dann geht Ihr wieder an die Arbeit und baut etwas Neues.
Wenn Ihr in Rage seid, und das ist etwas sehr Kostbares, dann seid Ihr nicht nur zerstörerisch, nein, dann werdet Ihr auch immer schöpferisch und schafft etwas, das die Herzen springen lässt. Das, so der Wunsch aus der Nachbarschaft, wird wieder so kommen. Wo die Revolution zu Hause ist, da ist sie nicht zu vertreiben.
Vive la France! Vive la Révolution!
Was wir, als Nachbarn, bis jetzt geleistet haben, um Euch, die Ihr den ganzen Kontinent befreit habt, jetzt, in der Stunde der Not, um zu helfen, ist leider furchtbar wenig, wenn nicht gar nichts. Was uns, einmal wieder, die Herzen bricht.
Wir wissen das, wir schämen uns dafür. Aber das kennt Ihr von uns. Wir sind Experten in der großen Theorie, wenn es aber ums praktische Leben geht, dann sind wir immer etwas begriffsstutzig. Wir arbeiten daran. Aber habt die Gewissheit, dass wir bei Euch sind. Ihr steht wieder einmal in der ersten Reihe! Und Euer Instinkt, den wir nicht haben, wird Euch vor weiterem Unheil bewahren.
Vive la France! Vive la Révolution!
Reden wir miteinander
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Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Vive la France: Ein Gruß nach Frankreich!“
Oh lala!
Ob man vor einem Kolonialisten mit seinen Fremdenlegionären aus EhrFURCHT den Kniefall machen sollte, sei mal dahingestellt. Napoleon und Hitler wurden auf beiden Seiten zugleich verachtet und begrüßt. Das Ergebnis der französischen Revolution steht heute genauso belämmert da wie das militärische Wirtschaftskonstrukt EU. Selbst ein Vive la resistance ist aus heutiger Sicht gescheitert.
Dass die Nationen sich eher mit Blut als Ruhm bekleckert haben und immer noch bekleckern kann man ja nicht nur auf Soldatenfriedhöfen bestaunen, die immer noch durch die Militärparaden glorifiziert werden.
Oder treiben wir es mal zynisch auf die Spitze, sehen wir auf die andere Seite des Atlantiks und „salutieren vor einer zügellosen Europäischen Gemeinschaft“ die im Blutrausch zusammengefunden hat.
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