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Rezension

Wo bleibt die Revolution

Egon W. Kreutzer hat in “Wo bleibt die Revolution. Die Sollbruchstelle der Macht” die aktuellen Phänomene untersucht und dabei einen Ansatz gewählt, der in Bezug auf die notwendigen Erkenntnisse Erfolg verspricht.

Große Verzweiflung macht sich allenthalben breit. Der Zustand speist sich aus der Tatsache, dass altbekannte Ordnungen zerfallen und die vertrauten Erklärungsmuster nicht mehr greifen. Ideologisch genährte Wunschvorstellungen helfen da genauso wenig weiter wie die Verbreitung von Dystopien.

Die Sollbruchstelle der Macht

Egon W. Kreutzer hat bereits 2014 ein Buch verfasst, das er nun aktualisiert und spezifiziert hat. Unter dem Titel “Wo bleibt die Revolution. Die Sollbruchstelle der Macht” hat er die aktuellen Phänomene untersucht und dabei einen Weg gewählt, der klug und überzeugend einen Ansatz verfolgt, der in Bezug auf die notwendigen Erkenntnisse Erfolg verspricht.

Egon W. Kreutzer. Wo bleibt die Revolution. Die Sollbruchstelle der Macht (Quelle: YouTube/Gerhard Mersmann)

Ausgehend von den Notwendigkeiten einer funktionierenden Volkswirtschaft, die sui generis [1] das Ziel verfolgen muss, durch das wirtschaftliche Agieren allen gesellschaftlichen Kräften die vitalen Funktionen zu sichern und den allgemeinen Wohlstand zu heben, inspiziert er die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die geprägt waren von zunehmendem Einfluss globalisierter Konzerne wie des Finanzsektors innerhalb der EU und im Geflecht einer weltweit vernetzten Ökonomie.

Das Fazit ist belegt und eindeutig. Die für eine Volkswirtschaft entscheidenden Faktoren von politischem System, Bevölkerung und Wirtschaft haben sich zuungunsten des politischen Systems wie der Bevölkerung dramatisch verschoben. Das unter dem Aspekt der sozialen Konvergenz verstandene Gemeinwesen unterliegt einem Erosionsprozess, die staatliche Einflussnahme ist strukturell immer weiter eingeschränkt und die soziale Divergenz innerhalb der Bevölkerung ist gestiegen.

Staat, Wirtschaft und Bevölkerung

Anhand zahlreicher Beispiele schildert Kreutzer diese Entwicklung und sagt ihr eine Bewegungsrichtung voraus, die unterschiedliche Szenarien zulässt. Die Verarmung großer Teile der Bevölkerung bei mangelnder politisch akzeptierter Programmatik erhöht die Wahrscheinlichkeit anarchischer Eruption. Die Demontage des politischen Systems ermöglicht die Privatisierung immer vitalerer staatlicher Funktionen – und fortschreitende Zerstörung staatlicher Funktionen könnte vor allem in Europa zum Spielball Dritter werden.

Die ‘Revolutionäre Situation’ entsteht, wenn Volkswirtschaft zu ‘Volksbewirtschaftung’ verkommt, wenn aus Menschen ‘Humankapital’ wird, dessen Wert einzig an Nützlichkeitskriterien bemessen wird. […]Egon W. Kreutzer (2020): 'Wo bleibt die Revolution“
Es ist die Zeit, sich diesen Tendenzen zu stellen und die Faktoren Staat, Wirtschaft und Bevölkerung im Auge zu behalten. Wer die Marktregulative als natürliche Mächte begreift, die das alles regeln würden, wird den Zerfall nicht verhindern können. Ein weiteres Motiv, das der Erkenntnis im Wege stehen könnte, ist die Grundüberzeugung, aus dem marginalen europäischen Blickwinkel zu glauben, die Rezeptur für eine globale Lösung vor sich hertragen zu können.

Kreutzers Ausführungen zufolge wäre es klug, sich die als Faktizität [2] präsentierenden Erscheinungen der fundamentalen Krise genau vor Augen zu führen und daraus die richtigen politischen Schlüsse zu ziehen. Die zunehmende exorbitante Staatsverschuldung entzieht der Volkswirtschaft existenzielle Mittel, die systematische, fortgesetzte Senkung des Lohnniveaus gefährdet nicht nur die soziale Kohärenz, sondern sie geht zu Lasten des Binnenmarktes und die ideologisch motivierte Dekonstruktion von Schlüsselindustrien zugunsten von brüchigen Alternativen bewirkt eine weitere Beschädigung der Volkswirtschaft.

Wo bleibt die Revolution

Die von Kreutzer dargestellte Entwicklung ist teilweise von den Akteuren des politischen Systems identifiziert worden. Ob diese Erkenntnis aufgrund der konkreten Machtverhältnisse zu praktischem Handeln führen wird, unterliegt aus heutiger Sicht der Spekulation. Aus dem Geschilderten ist die Dramatik nicht von der Hand zu weisen.

Dass der Autor bei seinem Titel weder ein Frage- noch ein Ausrufezeichen verwendet, spricht für seinen Realitätssinn. Die glasklare, ja messerscharfe Analyse benötigt weder eine Suggestionsfalle noch einen Imperativ. Sie verlässt sich auf die Faktizität.

Wer nach einem Erklärungsmuster für die Komplexität eines einzigartigen Ordnungszerfalles sucht, ohne sich dabei durch emotionsgeladenen Ballast ideologischen Wunschdenkens beschweren zu wollen, dem sei das Buch ausdrücklich empfohlen. Lösungsoptionen sind durchaus zu sehen. So widrig diese auch sein mögen.


Informationen zum Buch

Wo bleibt die Revolution. Die Sollbruchstelle der Macht

Autor: Egon W. Kreutzer
Genre: Sachbuch
Sprache: Deutsch
Seiten: 248 Seiten
Veröffentlichung: 2020
Verlag: BoD – Books on Demand
ISBN-13: 978-3-75193-421-3


Quellen und Anmerkungen

[1] Sui generis ist ein Fachausdruck aus der Philosophie. Er bedeutet “eigener Gattung bzw. eigenen Geschlechts” oder “einzigartig in seinen Charakteristika”.

[2] Faktizität bedeutet Wirklichkeit oder auch Tatsächlichkeit oder Gegebenheit.


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Illustration und Video: Neue Debatte und Gerhard Mersmann

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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