In der Not, so hieß es einmal, da zeigen sich die wahren Freunde. Diejenigen, die das erzählten, hatten oft Krieg, Flucht und Hunger selbst erlebt. Sie wussten, wovon sie sprachen. Ob an der überlieferten Weisheit noch etwas ist, davon konnte sich jeder in verschiedenen Lebenslagen ein Bild machen. Ich ganz persönlich denke, dass es stimmt. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen würde ich vor allem besonderen Wert auf das “zeigen” legen.
Schwere Zeiten im Leben
In bestimmten, prekären Situationen erschienen plötzlich Personen, die ich zwar kannte, die ich jedoch nicht unbedingt zu meinem engsten Freundeskreis gezählt hätte, und die wurden zu den treuesten Seelen überhaupt. Und andere wiederum verschwanden in großer Geschwindigkeit aus dem sozialen Bezugsfeld. Die heikle Situation war so zu einem Brennglas der tatsächlich existierenden sozialen Beziehungen geworden.
Ideologiefrei – Wie Konkurrenz das Soziale zerstört
Heute werden Menschen als Datenpakete für den wirtschaftlichen Gebrauch behandelt und gehandelt. Das heißt, der Mensch ist zur Ware geworden.
Und nicht, dass da falsche Ideen aufkommen: verantwortlich war ich immer für alles selbst, und niemand anderes hatte und wird jemals dafür meinerseits haftbar gemacht werden.
Die Not als Ausdruck einer Krisensituation bringt über die Frage nach den wahren Freunden noch eine andere Erkenntnis hervor. Krisen zeigen, was an den Haltungen und denen mit ihnen verbundenen Werten ist, die in relativ stabilen Zeiten formuliert werden.
Wenn diejenigen, die im allgemeinen Wohlstand von sozialer Verantwortung reden, plötzlich, in der Krise, den gemeinsamen Notgroschen im Schutze der Dunkelheit in ihre Reisetasche gleiten lassen und morgens nicht mehr gesehen waren. Oder wenn diejenigen, die gerne von Solidarität reden, die Details der anderen den neuen Machthabern in feinen Dossiers als Morgengabe servieren.
Das Feld ist vielfältig. Auch dort, auf dem Areal der Haltungen, gibt es positive Überraschungen. Da treten plötzlich Menschen für die scheinbar geteilten Werte ein, bei denen man gar nicht damit gerechnet hätte. Ja, sie entpuppen sich als Idealisten, die bereit sind, mit ihrem Leben für ein Ideal zu bezahlen, während die Helden vergangener Tage längst ein Stelldichein mit dem Teufel pflegen.
Schwere Zeiten in der Politik
In vielerlei Hinsicht haben wir es in unseren Tagen mit Krisen und ihren Nöten zu tun. Und noch sind wir zum Teil in Situationen, die uns das Privileg einer gewissen Muße verleihen, das heißt, wir müssen – noch! – nicht das eigene Umfeld nach den wahren Freunden und den Menschen mit Haltungen überprüfen, sondern wir können das, was uns persönlich erwarten wird, auf dem Feld der Politik schon einmal beobachten.
Sowohl die Koalitionen während des Prozesses als auch die Gegenstände der Aushandlung spielten sich jenseits des Portfolios ab, das immer wieder der Wertekanon genannt wird. Weder der Terminus Freund noch die Qualitätsbeschreibung von Haltung sind angebracht, um die Aktion zu beschreiben.
Und wie ist es, wenn einerseits die Situation der syrischen Bevölkerung beklagt wird, der NATO-Partner Türkei bei seinen völkerrechtswidrigen Operationen auf syrischem Territorium planmäßig die Getreideernte verbrennen lässt? Oder die USA und ihre treuesten Partner, dezidierter Bestandteil “unserer Wertegemeinschaft”, das Embargo gegen den Iran auch für alle Mittel, die zur Bekämpfung der Pandemie erforderlich wären, bestehen lässt?
Schwere Zeiten in der Krise
Es scheint, darauf können wir uns schön einmal vorbereiten, dass die Zeiten für gute Freunde schlecht und für Haltungen, die zu unserem Grundverständnis gehören, miserabel sind.
Quellen und Anmerkungen
[1] Heise (22.7.2020): EU-Haushalt: 6,8 Milliarden von über einer Billion Euro fürs “digitale Europa”. Auf https://www.heise.de/news/EU-Haushalt-6-8-Milliarden-von-ueber-einer-Billion-Euro-fuers-digitale-Europa-4849488.html (abgerufen am 2020). ↩
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Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.