Gemessen an dem sonstigen Drang, aus Kleinigkeiten möglichst große Sensationen zu generieren, müssten sich nun die Berichte über die Geschehnisse in Frankreich wie in den USA überschlagen. Zumal wir uns in dem viel belächelten, aber tatsächlich existierenden Sommerloch befinden.
Der Urlaub, die Hitze und das nur allzu verständliche Bedürfnis, die Bleiweste des Alltags für wenige Wochen ablegen zu dürfen, führen zu diesem Phänomen, das noch verstärkt wird durch die gleiche Tendenz bei denen, die für das Produkt Nachrichten verantwortlich zeichnen. Dennoch sitzen in diesen Räumen Notstäbe, die das Business aufrecht erhalten und so weitermachen sollen, als sei nichts geschehen.
Ablenkung von Systemkrisen
Da kommen immer wieder Ereignisse in die Schlagzeilen, die die Not, nichts Profundes zu finden, über das berichtet werden müsste, in beschämender Weise dokumentieren. Begebenheiten, die ohne die journalistische Aufmachung durch reißerische Fragestellungen wie Formulierungen nichts anderes sind als das, was den Alltag ausmacht. Das alles ist bekannt, gewinnt allerdings durch die tatsächlichen Ereignisse, die als politisch schwergewichtig beschrieben werden müssen, eine besondere Brisanz.
Wenn in Frankreich seit weit über einem Jahr täglich demonstriert, gestreikt, blockiert, belagert und protestiert wird und sich die politische Richtung, unabhängig vom tagesaktuellen Anlass, gegen den Präsidenten und dessen Vollendungsphantasien eines neoliberalistischen Programms wendet, dann kann ohne Übertreibung von einer fundamentalen Krise der gegenwärtigen Regierung gesprochen werden. Zudem handelt es sich um einen Richtungskampf zukünftiger Politik.
Die fundamentale Revolte
Das komplette politische System Frankreichs hatte mit der Wahl Macrons die Rote Karte bekommen. Diese bekommt dieser nun seinerseits gezeigt. Was ihn ausmacht, ist das Signal, dass er nicht gewillt ist, dieses ohne Gewalt zu akzeptieren. Das ist eine neue Qualität, die mit dem Wort Diktatur durchaus eine Entsprechung erhält. Und es wird zu einer Antwort kommen, die mit dem Terminus einer fundamentalen Revolte gut beschrieben ist.
In den USA sind seit dem Tod des George Floyd jeden Tag und jede Nacht Demonstrationen, Besetzungen und die Erklärung polizeifreier Zonen zu verbuchen, die längst nicht mehr nur aus dem täglichen Rassismus gespeist sind, sondern das ganze Politik-Portfolio der letzten Jahrzehnte infrage stellen. Zudem ist ein fundamentaler Streit zwischen dem Präsidenten und Gouverneuren sowie Bürgermeistern entbrannt, wie damit umgegangen werden soll.
Angesichts der demografischen Daten kann davon ausgegangen werden, dass es sich um den letzten Kampf der weißen Ostküsteneliten gegen die sich bereits verändert habende Rest-USA handelt. Der jetzige Präsident hat, analog zu seinem französischen Pendant, sehr deutlich gemacht, dass auch er nicht gewillt ist, ohne den Einsatz von Gewalt das Feld zu räumen.
Das gewaltige Beben
In Zeiten, in denen alt vertraute Ordnungen große Risse bekommen und sehr viel an die eigenen Werte appelliert wird, wären ausgiebige, präzise und schonungslose Berichte das Mindeste, was von einer halbwegs guten und professionellen Berichterstattung zu erwarten wäre. Dass die Professionalität des Journalismus durch Monopolisierung wie Digitalisierung gelitten hat, kann kaum noch bestritten werden.
Dass die großen, sich in den Händen von Presseoligarchen befindenden Medienhäuser ganz bewusst von den Verhältnissen abzulenken gedenken, die ihren eigenen Reichtum ausmachen, ist allzu verständlich. Da kann es nicht verwundern, dass die Erde im eigenen Lager gewaltig bebt, und die funkelnden Mediengruppen der Oligarchen von schnurrenden Strandmiezen und röhrenden Barwölfen berichten.

Demokratie am Abgrund: Emmanuel Macron als letzter Trick des Kapitals
Politik, Wirtschaft und Kapital sind untrennbar miteinander verwoben. Zu wenig wird an die Gesellschaft gedacht, zu sehr dominieren Eigeninteressen das Denken, zu ausgeprägt ist die Korruption. Die Stimme des Volkes hört in den Palästen von Berlin, Brüssel oder Paris keiner mehr – auch Macron nicht.

USA: Wirtschaft im freien Fall, Ende offen
Das beispiellose Tempo, mit dem aktuell Millionen Menschen aus der Lohnarbeit geschleudert werden, liegt weit über den Prognosen.
Quellen und Anmerkungen
Am 25. Mai 2020 wurde in Minneapolis (US-Bundesstaat Minnesota) der 46-jährige Afroamerikaner George Perry Floyd von Polizisten erst gewaltsam festgenommen und dann von einem der beteiligten Polizeibeamten ermordet. Der Täter drückte Floyd, der am Boden lag, mit dem Knie minutenlang gegen den Hals und damit die Luft ab. Das Opfer bettelte mehrfach vergeblich: “Ich kann nicht atmen.” Er rief nach seiner Mutter. Der Polizist brachte Floyd um.
Das Verbrechen wurde von Passanten aufgezeichnet. Videos der Tat verbreiteten sich über das Internet. Die Worte “I can’t breathe” wurden zum inoffiziellen Schlachtruf der unmittelbar auf das Verbrechen folgenden und bis heute anhaltenden Proteste unter dem Motto “Black Lives Matter”. Sie richten sich gegen den Rassismus, die Polizeigewalt und die soziale Ungleichheit in den USA.
Ab dem 31. Mai 2020 wurden in 40 US-Städten Ausgangssperren verhängt. Polizei, Einheiten der Nationalgarde, aber auch militärisches Personal, deren Zugehörigkeit nicht eindeutig geklärt ist, wurden gegen die Demonstraten geschickt. Polizisten griffen dabei nicht nur gezielt auch friedliche Demonstraten an, sondern ebendalls zahlreiche Pressevertreter, offenbar mit der Absicht, die Journalisten durch Bedrohung und Gewalt einzuschüchtern, um so die Berichterstattung über die Vorkommnisse zu verhindern.
Tou Thao, Thomas Kiernan Lane, Derek Michael Chauvin und James Alexander Kueng, die vier Polizeibeamten, die an der Ermordung George Floyds beteiligt gewesen sind, wurden wegen des Verdachts auf ein Tötungsdelikt beziehungsweise Beihilfe inhaftiert und angeklagt. Weitere Informationen auf https://de.wikipedia.org/wiki/Todesfall_George_Floyd (abgerufen am 03.08.2020).
Foto: Patrick Assalé (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.