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Meinung

Zweite Welle: Vernichtung der Arbeiterklasse

Die traurige Gestalt der Sklaven, die die zweite Welle des Wirtschaftsliberalismus hervorbringt, passt nicht zum schicken Interieur des biodynamisch nachhaltigen Kiezes, in dem sich das Jungvolk des neuen Reichtums zerstreuen möchte.

In der Seemannssprache ist es die neunte Welle, die bei Unwetter als die gefährlichste bezeichnet wird. Hier und heute, im Zeichen einer Pandemie, fürchten sich viele vor der zweiten Welle.

Wirtschaftsliberalismus und Arbeiterklasse

Zu Recht, denn die erste war neben der zu beklagenden Toten vor allem vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Auswirkungen noch weitaus schlimmer. Absehbar, wie viele Menschen ihre Arbeit verlieren und wie viele Unternehmen werden Insolvenz anmelden müssen, werden die Auswirkungen erst peu à peu [1].

Wer rechnen kann, sieht bereits, wie verheerend es werden wird. Aber wenn schon die Metapher mit den Wellen angeführt wird, dann sei sie hier auch weiter verwendet. Es geht allerdings um die Wellen der Vernichtung dessen, was einmal die Arbeiterklasse genannt wurde.

In der ersten Welle wurde sie im Zeitalter des Wirtschaftsliberalismus, dem politischen Programm der globalen Kapitalverwertung inklusive des Finanzhandels und der systematischen Steuerverweigerung, durch den Angriff auf in Tarifen ausgehandelte und in organisierten Arbeitskämpfen erwirkte Bezahlung bereits schwer getroffen.

Das neue Prekariat

Mit der Aushebelung von Tarifen, der Ermöglichung systematischen Lohndumpings durch Subunternehmen und Leiharbeitsfirmen wurden nicht nur die Besitzer qualifizierter Arbeitsplätze getroffen, sondern auch noch eine neue Klasse gebildet, die mit einem Namen versehen wurde, der den Ekel derer, die dafür verantwortlich zeichnen, bereits ausdrückt, nämlich das Prekariat.

Man scheute sich, die bittere Wahrheit mit einem Namen zu benennen, der die Brutalität der tatsächlichen Existenz für jedermann verständlich bezeichnet hätte. In der Vergangenheit war der Zynismus der Nutznießer noch nicht so sublimiert, da wurde noch vom Lumpenproletariat oder Strandgut gesprochen [2].

“In der ersten Welle wurden die existenziellen Grundlagen zerstört, die zweite Welle soll das übrig gebliebene Strandgut aus den Städten treiben.”
Die allgemeine Absenkung des Lohnniveaus hat nicht nur eine zweite Klasse abhängig Beschäftigter hervorgebracht, sondern diese selbst im Sinne globalisierter Verfahrensweisen auch noch verändert. In großem Ausmaß setzt sich die neue Klasse der total Entrechteten aus Menschen zusammen, die zugewandert sind und in Ländern rekrutiert wurden, in denen die existenziellen Grundlagen nicht gesichert sind.

Sie sind die zweiten Verlierer der ersten Welle der Vernichtung halbwegs akzeptabler Löhne und der Zerstörung sozialer Sicherungssysteme wie der Renten- und Krankenversicherung, die mit der ersten Welle einhergingen.

Die neue Klasse hat nichts von allem: in der Regel nicht einmal den Mindestlohn, weder Renten- noch Krankenversicherung. Eine neue Klasse von Sklaven ist etabliert. Der libertäre Staat steht auf Seiten der Steuerflüchtlinge.

Die zweite Welle

Die zweite Welle nun bezieht sich auf die Ansiedlung derer, die gesellschaftlich längst ausgegrenzt sind. Es geht um ihre Vertreibung aus den Städten. Das, was analog zu dem Begriff des Prekariats für dieses Unterfangen geschaffen wurde, ist die Gentrifizierung. Auch hier ist der Name eine Verschleierung für etwas, das als die Vertreibung der Rechtlosen aus dem städtischen Raum stehen sollte.

Es geht darum, die urbanen Zentren für die Gewinner des Krieges um Sicherheit und Wohlstand zu reklamieren und die Verlierer in außerhalb des Sichtfeldes liegende kasernierte Ghettos zu verfrachten, wo sie ihrem Elend überlassen bleiben.

Zumeist sind die Nutznießer dieser Vertreibung vehement gegen Massentierhaltung und für Nachhaltigkeit, ohne den Zusammenhang zu den von ihnen Vertriebenen zu sehen. Dieser Zustand der sozialen wie intellektuellen Verwahrlosung kann als eine Art chronischer Nebenwirkung der zweiten Welle bezeichnet werden.

Der brutale Klassenstaat

Erste und zweite Welle des Wirtschaftsliberalismus hatten das Establishment eines neuen, brutalen Klassenstaates zur Folge. Sein Gesicht ist ein anderes als das, welches in den Geschichtsbüchern steht und als Manchesterkapitalismus beschrieben wurde [3].

Die Organisierung der historischen Arbeiterbewegung hatte zur Folge, dass ein relativer Wohlstand etabliert wurde, der auf Bezahlung, verfügbaren Wohnraum und sozialer Sicherung hinsichtlich Alter und Gesundheit wie auf dem Zugang zu Bildung beruhte. In der ersten Welle wurden die existenziellen Grundlagen zerstört, die zweite Welle soll das übrig gebliebene Strandgut aus den Städten treiben.

Die traurige Gestalt des Sklaven passt nicht zum schicken Interieur des biodynamisch nachhaltigen Kiezes, in dem sich das Jungvolk des neuen Reichtums zerstreuen möchte. Und, um Missverständnissen vorzubeugen: die Vollstrecker dieser Politik waren nicht irgendwelche Finanzkapitalisten, die von der Börse im fernen New York aus die Welt administrieren, sondern Politiker und Bürokraten vor Ort, die die Schleusen geöffnet haben.


Quellen und Anmerkungen

[1] Focus (7.8.2020): Gesamte Branche in Gefahr: Aufgeschobene Insolvenzen bedrohen Deutschlands Banken. Auf https://www.focus.de/finanzen/boerse/folgen-der-pandemie-gesamte-branche-in-gefahr-aufgeschobene-insolvenzen-bedrohen-deutschlands-banken_id_12283868.html (abgerufen am 9.8.2020).

[2] Wikipedia: Lumpenproletariat. Auf https://de.wikipedia.org/wiki/Lumpenproletariat (abgerufen am 9.8.2020).

[3] Manchesterkapitalismus ist die Bezeichnung für eine wirtschaftsgeschichtliche Phase in Großbritannien während der industriellen Revolution. Der Begriff, der auch für Ausbeutung und Profitgier steht, beschreibt die Auswirkungen einer Wirtschaftspolitik, die sich fast ausschließlich an den Interessen der Unternehmer orientiert, eine Regulierung des Staates verhindert und soziale Probleme ausklammert. Mehr Informationen auf https://de.wikipedia.org/wiki/Manchesterkapitalismus (abgerufen am 9.8.2020).


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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

2 Antworten auf „Zweite Welle: Vernichtung der Arbeiterklasse“

So gut der Artikel auch ist, eines stört mich: Der Titel! Arbeiterklasse – Wer fühlt sich da noch angesprochen? Warren Buffet spricht schon längst davon, dass seine Klasse gewinnen wird. Wovon er nicht spricht, ist die Kapitalisten-Klasse oder die Arbeiter-Klasse! Seine Klasse sind ultrareiche Familen, Weltkonzerne. Zur Verlierer-Klasse gehören ALLe Menschen, die Arbeiten müssen – auch ich als Selbständiger mit zwei Hochschulstudien !
Arbeiterklasse ist ein Begriff aus einer Welt, die es nicht mehr gibt.
Was sich jetzt in der C-Krise zeigt, ist: “Wer schweigt, stimmt zu!”
Wie können wir die Lämmer (Mausfeld), die Schlafschafe, die ReGIERungsgläubigen, die Gehorsamen, für uns, für die kritische Masse, motivieren?

jetzt noch die Vernichtung der Arbeiterklasse zu denken, ist nostalgisch, wie der Begriff: 100 Jahre verjährt! Schon Marx hatte ihn mit der zentralistischen Diktator des Proletariats zum Missbrauch frei gegeben, und die Gewerkschaften 1918 an Stinnes und den Arbeitgeber-Verband für 500 Mio Reichsmark an Freikorps und 8-Stunden-Privi-Legien.

Nun wird Olaf Scholz die Arbeiterklasse ein letztes Mal retten, und wir können uns noch einmal mit Versicherungen freikaufen! Hartz und Riester lachen schallend mit.

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