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Ukraine 2.0 oder wem die Stunde schlägt

Das, was in Sachen Belarus noch zu erwarten ist, wird dem Drehbuch der Ukraine folgen. Alle Anzeichen sprechen dafür. Aber was sagt das über Westeuropa aus?

Es hat sich nichts geändert. Nach der Lerntheorie eine Katastrophe. Nachdem das Abenteuer Ukraine zu einem einzigen Debakel wurde, sollte man meinen, es hätte so etwas wie eine Manöverkritik im eigenen Lager stattgefunden. Aber mitnichten.

Die Ukraine als Drehbuch

Das, was in Sachen Belarus noch zu erwarten ist, wird dem Drehbuch der Ukraine folgen. Alle Anzeichen sprechen dafür. Aber was sagt das aus über den Teil der Welt, der behauptet, in ihm seien die Vernunft, die kritische Reflexion und die Menschenrechte zuhause? Die Antwort ist ganz einfach: die einstigen Bewohner sind längst ausgezogen.

Wenn selbst die Utensilien immer dieselben sind, wird es langweilig. Die neue Ikone gegen den Autokraten Lukaschenko, der er zweifellos ist, ist selbst von der ersten Welle der ukrainischen Auflösung begleiteten Dame1 Nau.ch (10.8.2020): Belarus-Wahl: Lukaschenko-Gegnerin Tichanowskaja beansprucht Sieg. Auf https://www.nau.ch/news/europa/belarus-wahl-lukaschenko-gegnerin-tichanowskaja-beansprucht-sieg-65758803 (abgerufen am 21.8.2020). optisch kaum zu unterscheiden: Jung, unschuldig und reinen Herzens demokratisch, bis sich herausstellte, dass sie kämpfte, um eine korrupte Oligarchin zu werden.

Wer sich neben den Empörungswellen fragt, wofür die Dame eigentlich steht, findet zunächst nichts außer der obligaten Freiheitsparole. Dann aber finden sich Aussagen, die ganz im Hymnus des Wirtschaftsliberalismus stehen und für die Verhökerung des Staates sprechen.

Da wäre den Weißrussen zu raten, sich bei Ukrainern wie Russen einmal zu erkundigen, wohin das beim gemeinen Volke führen wird. Gemeint sind bittere Verarmung und Hunger. Dass Waldimir Putin dem freien Treiben der Ausbeinung einer Volkswirtschaft ein Ende bereitet hat, ist die Ursache für seine Dämonisierung.

Die Empörung

Und der europäische Westen hat allen Grund, sich wieder einmal moralisch zu empören! Innerhalb der EU sind die Verhältnisse nicht so, als dass sie sich in einzelnen Fällen von denen in Weißrussland unterschieden.

In Ungarn und Polen lebt jeder Widerstand gefährlich, aber dafür eignet sich Polen zunehmend besser als Brückenkopf für Aggressionen gegen Russland. Das war im Falle der Ukraine so und das wird bei Belarus wieder so sein. Und ist es da nicht folgerichtig, nochmal ein paar Kohorten aus Germanistan dorthin zu verlegen?

Und, an alle, die sich bereit machen für eine neue Empörungswelle. Gäbe es nicht genug Gründe, die ständig reklamierten Werte innerhalb des eigenen Lagers auf ihren Realitätsbezug hin zu überprüfen? Wie steht es eigentlich in Frankreich? Und, was die NATO anbetrifft, die seit der Ukraine als Zwangsangebot immer im Doppelpack mit der EU zur Debatte steht, wie sieht es mit der Türkei aus? Letztere verbrennt gerade in völkerrechtswidrigen kriegerischen Handlungen die syrische Ernte und sie staut das Wasser, damit die Kurden nichts zu trinken haben. Vom Umgang mit der Opposition gar nicht erst zu lamentieren!

Da wäre mal etwas, was den Protest anfachen sollte. Doch da schweigt des Sängers Höflichkeit. Schlimmer noch, da wird die Deklaration zum Risikoland in Sachen Pandemie mal schnell annulliert.

… und dann Joe Biden

Und dann Joe Biden. Auf den hat die Weltgeschichte gerade noch gewartet. Er war der Beauftragte Obamas für die Ukraine und hat dort eindrücklich demonstriert, was von ihm zu erwarten ist. Neben dem brutalen Interventionismus hat er überzeugend vorexerziert, wie Oligarchentum und Nepotismus funktionieren.

Glaubt irgendwer, dieser Senator würde nicht nach der Wurst schnappen, die da aus den weißrussischen Birkenwäldern duftet? Gegen Biden ist Trump, was den direkten Einsatz von Militär anbetrifft, ein Deeskalator.

Es ist hinlänglich bekannt, dass sich die moralische Empörung über Vorkommnisse in Hongkong oder Minsk überschlägt, während sich die Berichterstattung bei analogen Entgleisungen in Paris oder Portland ganz anders darstellt. Genau dieses Vorgehen ist das Gift, dass sich in alle Ritzen der Gesellschaft einschleicht und das Vertrauen in das Handeln der Regierungen im Westen unterminiert.

Die Verantwortlichen selbst merken das schon lange nicht mehr. Fast möchte man ihnen raten, morgens einfach mal zum Bäcker zu gehen und ein wenig zuzuhören. Dann bekämen sie vielleicht eine Ahnung davon, was die Stunde geschlagen hat.


Quellen und Anmerkungen

Aljaksandr Lukaschenko (Jahrgang 1954), der 1991 den Augustputsch in Moskau gegen Michail Gorbatschow unterstützte, ist seit seit 1994 Präsident von Belarus (Weißrussland). Er ging mit Hilfe der Justiz und des Polizeiapparats gegen Systemkritiker vor, schränkte die freie Presse ein, stoppte die Privatisierungen, wandte sich mehr und mehr vom Westen ab und strebte nach einer Neuauflage der Sowjetunion unter Einschluss Russlands, der Ukraine und Weißrusslands.

1999 und 2000 verschwanden mehrere oppositionelle Aktivisten. Sie sollen von Todesschwadronen, die in engsten Kontakt zur Staatsführung standen, entführt und ermordet worden sein.

Das Verhältnis zur Regierung in Russland kühlte zeitweilig ab, sodass Belarus praktisch isoliert war. Bei Wahlen soll es immer wieder zu Manipulationen gekommen sein. Proteste und Demonstrationen wurden durch Polizei und andere Einheit des Staates niedergeschlagen.

Die COVID-19-Pandemie soll Lukaschenko als “Psychose” bezeichnet haben. Im Juni 2020 löste er die weißrussische Regierung per Dekret auf. Politische Konkurrenten um das Amt des Präsidenten wurden verhaftet. Nach der Präsidentschaftswahl im August 2020 wurden Vorwürfe der Wahlfälschung laut. Es kam zu Massenprotesten. Diese wurden vom Staat mit Gewalt unterdrückt. Die Opposition soll vorzugsweise aus Staaten der Europäischen Union und den USA unterstützt werden.


Foto: Alex Manlyx (Unsplash.com)

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Eine Antwort auf „Ukraine 2.0 oder wem die Stunde schlägt“

Die Ereignisse in Belarus kann man nicht ganz mit der Ukraine vergleichen. Die vorherrschenden Mentalitäten sind zu unterschiedlich. Zwar gegeh alle drei Völker (Russen, Belarusen und Ukrainer auf den Kiewer Rus zurück. Aber wärend die Russen sich lieber einem Zaren unterwerfen (von Iwan, dem Schrecklichen, über Katharina, Peter, Alexander, Nikolaus, über Lenin, Stalin, Breschnew, Jelzin bis Putin). So lange der Zar sie beschützt und Gutes für sie tut, lassen sie ihn machen. Demokratie ist für viele Russen kein Thema. Diejenigen, die dagegen aufbegehren, sind in der Minderheit.
Die Ukrainer hingegen gingen auf die Kosaken zurück, freie Krieger und Abtrünnige. Und sie hatten auch keinen Zaren, sonder einen Hetman (Hauptmann), den sie duch Wahl bestimmten. Und auch heute noch ist vielen Ukrainern ihre Freiheit lieber als Schutz und Sicherheit.
Ja, es gibt in der Ukraine viel Armut. Das ist aber auch mit darauf zurückzuführen, dass durch den Konflikt mit Russland viele Handlesbeziehungen zu Russalnd weggebrochen sind, und die westliche Welt, auch aus Gründen von Vorurteilen dies nicht ausgleichen (wollen), obwohl sich viele ukrainische Unternehmen große Mühe geben, hochwertige Produkte anzubieten. Aber dieser Freiheitswille bewirkt auch, dass viele Ukrainer eher an die freie Marktwirtschaft glauben als an Regulierungen wie in der EU.

Belarus steht nun genau dazwischen. Ich glaube nicht, dass in Belarus solche Prozesse einsetzen wie beim Euromaidan. Und hätte Lukaschenko den Wahlbetrug etwas raffinierter angestellt (z.B. mehrere Opositionelle zur Wahl zulassen, um in einer Stichwahl dann als knapper Sieger hervorzugehen), wäre der Protest nicht so stark.

Was heißt das nun für uns als Euroäer? In Belarus sollten wir schon darauf einwirken, dass freie Wahlen stattfinden, das mehrere Gegenkandidaten zugelassen werden und die Wahlen unter internationaler Beobachtungen stattfinden. Dann aber sollten wir aber auch das Wahlergebnis akzeptieren, auch wenn es uns nicht passt. Sollten aber europafreundliche Kräfte die Wahl gewinnen, dann sollten wir daruaft hinwirken, dass es zu keiner “Zwangs-Belarusifizierung” (ähnlich der Zwangs-Ukrainifizierung) kommt, denn wenn die Russen und Russisch-Sprachler in Belarus diskiminiert werden, kann das ganz schnell zu Problemen wie auf der Krim und in Luhansk und Donezk kommen.

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