In der EU wird wieder einmal gekungelt. Das wird zwar nicht so genannt, entspricht aber dem Charakter, den man gerne Konsultation nennt. Außenminister Heiko Maas tat alles, um den Eindruck zu vermeiden und berichtete von Übereinkünften, die es nicht gibt. Es ging nämlich zunächst um einen Antrag Griechenlands, in dem eine scharfe Verurteilung und die Androhung von Sanktionen gegen die Türkei wegen der Gasbohrungen in griechischen Gewässern gefordert wurde. Darauf konnte man sich nicht einigen. So, wie es scheint, ist Souveränität weiterhin verhandelbar.
Appeasement-Politik
Aufgrund dieser Zurückweisung sahen es die Vertreter Griechenlands jedoch nicht ein, sich einem restriktiven Vorgehen gegen Belarus anzuschließen. Dort hatten, das ist bekannt, Wahlen stattgefunden, die wahrscheinlich manipuliert wurden, was zu Massenprotesten geführt hat. Trotz der nicht zustande gekommenen Beschlussfassung über auch von der Bundesregierung geforderte Sanktionen, stellte der deutsche Außenminister es im Anschluss an die Sitzung dar, als sei dies geschehen.
Angesichts des zu beobachtenden Vorgehens beziehungsweise der Art und Weise, wie innerhalb der Organe der EU verhandelt wird, lässt sich einiges lesen. Zum Beispiel, dass die Appeasement-Politik gegenüber der Türkei, die vor allem immer wieder von Deutschland gepuscht wird, nach wie vor Bestand zu haben scheint.
Massenverhaftungen, Terror gegen Richter und Staatsanwälte, Lehrer und die Presse, Bombardierung kurdischer Regionen im eigenen Land, kriegerische, völkerrechtswidrige Handlungen in Syrien, Unterstützung der Islamisten in Libyen, und nun das Schnüffeln nach Ressourcen in fremden Gewässern, zudem denen eines EU-Mitglieds – das alles reicht nicht, um einen Mechanismus auszulösen, der sich auf die bis zur Ermüdung gebrauchten Begriff der Wertegemeinschaft zu beziehen wäre? Nein.
Drehbuch zum Regime Change
Warum sich die Bundesregierung, zumal deren sozialdemokratische Teile, gerne als die Pioniere von Regime-Change-Projekten zu profilieren suchen, wie es in der Ukraine Frank-Walter Steinmeier tat und, im Falle Belarus, Heiko Maas tut, bleibt ihr Geheimnis. Sie dokumentieren damit, dass sie mit ihrer einstigen Klientel nichts mehr am Hut haben und weiterhin mit Erfolg an ihrer eigenen Demontage arbeiten. Verdeutlicht wird dieses durch eine kleine Episode, die Deutungsmacht besitzt.
Da schrieb eine Gewerkschaftsgruppe aus dem Ruhrgebiet einen Brief an die Demonstranten in Minsk, in dem sie sich mit den Menschen dort solidarisch erklärten und freie und geheime Wahlen forderten. Aber, und da wird die Schere deutlich, sie rieten den Protestierenden, sich in anderen osteuropäischen Ländern genau umzuschauen, welche Optionen zur Verfügung stünden.
Sie verwiesen auf das Regiebuch, das die Regime-Change-Initiatoren befolgen: Privatisierung all dessen, was in stattlicher Verwaltung ist, was gleichkommt mit der Aufteilung des öffentlichen Eigentums unter Oligarchen und international operierenden Konzernen. Zerstörung tariflicher Standards, Zerschlagung der Sozialsysteme, so frugal sie auch gewesen sein mögen – kurz, eine moderne Form des Manchesterkapitalismus, der schlimmer daherkommt als sein Original. Die Initiatoren des Briefes wünschten den Menschen in Minsk brennende Herzen, Mut und einen klaren Kopf.
Das Leben in der Bubble
Zu Zeiten, als es noch politische Parteien gab, die sich in erster Linie um die Lebensverhältnisse derer kümmern wollten, die nichts hatten als ihre Arbeitskraft, wäre ein solcher Brief auch dort formuliert worden. Heute sind es einzelnen Aktivisten, die aufgrund der eigenen, schmerzhaften Erfahrungen nur noch Warnungen aussprechen können.
Von der Analyse her stand der Inhalt des Briefes allerdings weit über dem Niveau dessen, was die Bundesregierung derzeit – zumindest öffentlich – zum besten gibt.
Was die Akteure dort nicht begreifen wollen, ist das wachsende Bewusstsein darüber, dass Regime-Change-Aktionen, scheinbar weit weg, als feindliche Akte gegen sich selbst von großen Teilen der Bevölkerung wahrgenommen werden. Da stellt sich die berechtigte Frage, wer es eigentlich ist, der in der Blase lebt?
Quellen und Anmerkungen
Die Politik der Beschwichtigung (Appeasement-Politik) bezeichnet eine Politik des Entgegenkommens, der Zugeständnisse, der Zurückhaltung oder der Beschwichtigung als Reaktion auf Aggressionen, um vor allem kriegerische Auseinandersetzungen zu vermeiden. Die Politik des ständigen Nachgebens gegenüber Despoten, Tyrannen oder Diktatoren sowie totalitären (und aggressiven) Staaten wird Appeasement-Politik genannt.
Foto: Clément Falize (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.