Es wogen die Wogen ihr ew’ges Gemurmel, es weht der Wind, es fliehen die Wolken, es blinken die Sterne, gleichgültig und kalt, und ein Narr wartet auf Antwort.
Heinrich Heine (1987-1856), Dichter und Schriftsteller
Liebe macht blind
Ein verliebter junger Mensch sieht seinen Partner in vielerlei Hinsicht idealisiert. Er sieht seine interessanten Seiten, die schönen Augen, seinen freundlich lächelnden Mund. Einem anderen dagegen, der genau denselben jungen Menschen ohne tiefere, gefühlsmäßige Beteiligung sieht, fallen möglicherweise die abstehenden Ohren auf oder die dünnen Haare, und sein Urteil über das Schöne oder Interessante fällt deshalb ganz anders aus.
Das meint der Volksmund, wenn er überspitzt sagt: “Liebe macht blind”. Aber eben blind für die Schwächen und Schattenseiten eines Partners und nicht für die Schönheiten, die gesehen werden wollen.
Jeder sieht mit seinen Augen aus einem Blickwinkel, der vom eigenen Ich ausgeht. Wer also den anderen Menschen, die Wiese, den Sternenhimmel, die Wirklichkeit sieht, erkennt zwischen sich und der Welt Harmonien und Differenzen. Was ist aber dieses Ich? Ist es Körper unter kooperierenden Körpern oder Geist, Teil einer Weltseele?
Heinrich Heine fragt und antwortet auf seine Weise. “Am Meer, am wüsten nächtigen Meer”, schreibt der Dichter, stehe “ein Jüngling-Mann, die Brust voll Wehmut, das Haupt voll Zweifel, und mit lüsternen Lippen” frage er die Wogen:
“O löst mir das Rätsel, worüber schon manche Häupter gegrübelt, Häupter in Hieroglyphenmützen, Häupter in Turban und schwarzem Barett, Perückenhäupter und tausend andre arme schwitzende Menschenhäupter – Sagt mir, was bedeutet der Mensch? Woher ist er kommen? Wo geht er hin? Wer wohnt dort oben auf goldenen Sternen?”1 Der Schriftsteller Heinrich Heine verfasste das Gedicht “Fragen” 1826.
Der Schritt ins Leben
Ein Mensch wird als nackter Säugling geboren, unfähig selbständig essen, sich fortbewegen, sprechen oder denken zu können. Zwar veranlagt und begabt, sich selbst und die Welt zu begreifen, ist er zunächst fast ausschließlich körperlich vorhanden – und das auch noch weit unvollkommener als später nach unermüdlich erfolgendem Stoff- und Energiewechsel und der Wahrnehmung seiner Umgebung.
Langsam aber stetig wird er sich dabei dank motorischer beziehungsweise sensibler Nervenbahnen und eines wachsenden Zentralnervensystems seines Selbst bewusst. Eltern, Erzieher, das notwendige gesellschaftliche Mit-, Für- und Gegeneinander und das Naturgeschehen um ihn herum helfen dabei oder können auch stören.
Das Bild vom Menschen
Der Psychiater Nossrat Peseschkian setzt in der Erziehung ein positives Menschenbild voraus. Er schreibt: “Die Prinzipien der Erziehung waren von jeher von den Vorstellungen des Menschenbildes abhängig, das in dem entsprechenden Zeitalter Gültigkeit besaß. In dieses Menschenbild fließen die Erfahrungen ein, die man mit Eltern und Mitmenschen macht, ebenso wie die Erfahrungen, die aus der Tradition übernommen werden und die von den gesellschaftlichen und den religiös-weltanschaulichen Wertvorstellungen abhängig sind.”
Seinem Konzept der “Positiven Psychotherapie” liegt die Auffassung zugrunde, dass jeder Mensch zwei Grundfähigkeiten besitze, “die Erkenntnisfähigkeit und die Liebesfähigkeit”. Peseschkian stellt dazu fest:
“Beide gehören zum Wesen eines jeden Menschen und werden abhängig von den Bedingungen seines Körpers (biologische Faktoren) und denen seiner Umwelt (soziale Dimension) sowie dem Zeitgeist (weltanschauliche Dimension) entwickelt. Unverwechselbare Muster von Wesenszügen und Verhaltensweisen prägen je nach Differenzierung dieser Grundfähigkeiten die jeweilige Persönlichkeit. Aus diesen beiden Grundfähigkeiten entfalten sich im Laufe der Entwicklung alle anderen Fähigkeiten.”
Die Liebesfähigkeit sei der Bereich der Emotionalität, der Gefühle und Triebe. Als Ausdruck der zwischenmenschlichen Beziehungen umfasse er die Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden.
“Mit Hilfe der Erkenntnisfähigkeit strukturieren wir unsere Erlebnisse”, bemerkt Peseschkian, “wir stellen Fragen, suchen Antworten und sind in der Lage, zu lernen und Erfahrungen weiter zu geben. Während die Religionen den Anspruch erheben, Sinn zu geben (Sinngebung), und auch Verbindlichkeiten dafür fordern, kommt der Wissenschaft in ihrer weitesten Bedeutung die Aufgabe zu, diesen Sinn zu finden (Sinnfindung).” Aus der Liebesfähigkeit entwickelten sich die “primären Fähigkeiten” und aus der Erkenntnisfähigkeit die “sekundären Fähigkeiten”. Die primären und die sekundären Fähigkeiten bezeichne man als die “Aktualfähigkeiten” (1).

Fast ein jeder hat die Welt geliebt,
wenn man ihm zwei Hände Erde gibt …
— aus: Von der Freundlichkeit der Welt (1921, Bertolt Brecht)
Bertolt Brecht brachte es in dem Gedicht “Von der Freundlichkeit der Welt” so auf den Punkt:
“Auf die Erde voller kaltem Wind kamt ihr alle als ein nacktes Kind. Frierend lagt ihr ohne alle Hab als ein Weib euch eine Windel gab. Keiner schrieb euch, ihr wart nicht begehrt und man holte euch nicht im Gefährt. Hier auf Erden ward ihr unbekannt als ein Mann euch einst nahm an die Hand. Von der Erde voller kaltem Wind geht ihr all bedeckt mit Schorf und Grind. Fast ein jeder hat die Welt geliebt wenn man ihm zwei Hände Erde gibt.” (2)
Die Sonne muss scheinen
Sehr viel Materiebewegung musste sich ereignen, bis die digitale Ur-Information aus Sein und Nichtsein, aus dimensionsloser Wahrheit kommend, vom Urknall über die Desoxyribonukleinsäure zum eiweißstrukturierten und durch Adenosintriphosphat-Abbau energetisch gestützt zum funktionierenden Menschen mutierte.
Triebmotiviert erspielt, erlernt und erwirkt sich dieser die Fähigkeiten zum Sprechen, Denken und Arbeiten, um sich so durch Reflexion der gegebenen Wirklichkeiten im Gehirn und durchdenken derselben immer mehr der Wahrheiten seines Daseins bewusst zu werden. Jedoch nur ausschließlich “voller kaltem Wind” hätte die Erde wohl kaum Menschen hervorbringen können. Da muss auch die Sonne scheinen, es muss Wasser fließen, der Mensch braucht den Wald und bunte Wiesen, die Tiere und auch Mikroben um Leben zu können.
Er braucht das alles, um im ständigen Auf- und Abbau von Stoffen und Energieträgern aus einer einzigen befruchteten Eizelle zum erkennenden und begreifenden Wesen alles Wirklichen heranwachsen zu können.
Seine Gefühle, sein Verstand, seine Wirklichkeit
Der Mensch kann sich seines eingebunden Seins in die offenbare Wirklichkeit nur bewusst werden, da es ihm gegeben ist, Freude und Leid, Glück und Trauer, Angst und Hoffnung zu empfinden.
Gefühle entstehen im Zwischenhirn, der Verstand ist im Großhirn lokalisiert. Beide sind an die Existenz speziell strukturierter und funktionierender Materie gebunden, von Sinneszellen empfangene und in Erregung umgewandelte Reize aus der Wirklichkeit rufen im Zentralnervensystem des Menschen registrierte Gefühle hervor und bringen ihn zu Verstand. Reize beantwortet das Gehirn mit entsprechenden Regungen und Bewegungen.
Die Menschen haben natürlich-informierte, kommunizierend-interagierende und empfindsam-bewusst agierende und reagierende psychische Merkmale.
Sich seiner selbst bewusst wird der Mensch beim Erkunden und Untersuchen der Ursachen und Wirkungen seiner bio-psycho-sozialen Wirklichkeit. Er kann mittels naturwissenschaftlicher, erkenntnistheoretischer und psychologischer Methoden die Wirklichkeit begreifen und sich allumfassenden Wahrheiten nähern.
Analysieren und Aufzeigen von Zusammenhängen, Meinungsstreit und Kooperation, Mühsal und Erfolgsglück sind allem Suchen immanent. Gefunden wird immer nur das am Wege liegende Bruchstückhafte. Und doch, zielorientiertes Vorgehen und sich seiner Selbst bewusst werden bringen uns Erfüllung und Zufriedenheit. Wie in natürlich-materielle und psychisch-geistige, kann sich der Mensch auch in sozial-gesellschaftliche Vorgänge und Zusammenhänge hineindenken.
Persische Briefe
Wie schon seit Menschengedenken gab es auch in der Zeit des blühenden Feudalabsolutismus Menschen, die in der Lage waren ihre Gegenwart im Lichte wahrhaftiger Erkenntnisse zu sehen und daraus Vorschläge für künftige Entwicklungslinien zu extrapolieren.

Der Fürst, die Höflinge und einige Mächtige besitzen hier alle Reichtümer, während alle anderen in äußerster Armut schmachten.
— Montesquieu (1689-1755), Schriftsteller, Philosoph und Staatstheoretiker, über Willkürherrschaft.
Charles-Louis de Secondat, bekannt als Baron de Montesquieu, habe sich gehütet, wie er nachdrücklich bemerkte, seine Prinzipien der Fantasie zu entnehmen, für ihn sei die “Natur der Sache” entscheidend gewesen.
Der Abkömmling einer geadelten Beamtenfamilie, Bewunderer der englischen Wirklichkeit nach der Revolution von 1688, durch die ein Kompromiss zwischen der modernen Fraktion der Aristokratie und der Bourgeoisie hergestellt worden war, veröffentlichte 1721 seine Persischen Briefe. In ihnen unterzog er in Gestalt eines exotisch gefärbten Briefwechsels zweier Perser das absolutistische System einer außerordentlich scharfen und geistreichen Kritik. Er soufflierte seinem Paris-Besucher Usbek unter anderem in die Feder:
“Die Milde der Regierung trägt wunderbar zur Fortpflanzung der Art bei. Alle Republiken sind hierfür ständiger Beweis… Selbst die Gleichheit der Bürger… erfüllt alle Teile des Staatskörpers mit Wohlstand und Leben und verbreitet beides überall.Anders verhält es sich in den der Willkürherrschaft unterzogenen Ländern: Der Fürst, die Höflinge und einige Mächtige besitzen hier alle Reichtümer, während alle anderen in äußerster Armut schmachten.”
Zwanzig Jahre arbeitete Montesquieu an seinem Hauptwerk “Vom Geist der Gesetze”, das 1748 in Genf erschien (3). Anhand von umfangreichem, historischen Material ist Montesquieu bestrebt nachzuweisen, dass die große Vielfalt der Sitten, Gebräuche und juristischen Normen nicht auf Launen oder Vorurteile, sondern auf bestimmte Prinzipien zurückgeführt werden kann.
Er sucht nach dem Zusammenhang der Erscheinungen, nach dem kausalen Verhältnis von Ursache und Wirkung, und will von den Erscheinungen zum Wesen der gesellschaftlichen Existenzen vordringen.
Montesquieu hat zum ersten Mal die drei Gewalten im Staat – die gesetzgebende, die ausführende und die richterliche Gewalt – klar herausgestellt. Er eröffnete damit in einer Zeit, in der sich am Versailler Hof der Staat im König manifestierte entscheidende Ausblicke für eine Neugestaltung der politischen Verhältnisse.
Vom Gegenlied zum Aufstand im Menschen
Selbstbewusst und eindringlich fragt und antwortet Bertolt Brecht im “Gegenlied” zu seinem Gedicht “Von der Freundlichkeit der Welt”:
“Soll das heißen, dass wir uns bescheiden und so ist es und so bleibt es sagen sollen? Und, die Becher sehend, lieber Dürste leiden nach den leeren greifen sollen, nicht den vollen? Soll das heißen, dass wir draußen bleiben ungeladen in der Kälte sitzen müssen, weil da große Herrn geruhn uns vorzuschreiben, was da zukommt uns an Leiden und Genüssen? Besser scheint’s uns doch, aufzubegehren und auf keine kleinste Freude zu verzichten und die Leidenstifter kräftig abzuwehren und die Welt uns endlich häuslich einzurichten!”
Es gibt Zeiten und Gelegenheiten, die von Menschen genutzt werden, um anderen von ihrem Selbstbewusstsein etwas mitzuteilen, von ihrer Art und Weise also, nach dem Leben zu fragen. So tat es auch der Dichter Johannes R. Becher nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (4). Denn Erschütterten wollte er Hoffnung auf eine bessere Zukunft vermitteln. In seinem Buch “Der Aufstand im Menschen” schreibt er:
“Haltet weniger Vorträge, sprecht nicht zu euren Zuhörern von oben her, setzt euch zu ihnen und mitten unter sie und erzählt. Erzählt ihnen, was ihr auf dem Herzen habt, vielleicht werden sie dann auch euch ihr Anliegen kundtun. Erzählt ihnen eure Gedanken, lasst euch von ihnen erzählen, was sie denken. Lehrt sie nicht Politik, Wissenschaft, Literatur – erzählt ihnen davon. Lehrt nicht Geschichte – erzählt. Das Gute soll nicht so sehr gelehrt als erzählt werden.”
Nur mit Reden kann natürlich auch nur wenig Hoffnung gegeben werden, denn zwischen Zufall und Notwendigkeit, zwischen Fallstricken und Chancen bewegen wir uns zeitlebens. Nachdem über das jeweilige Was, Warum und Wie debattiert wurde, kann das jeweils Notwendige mittels des Möglichen getan werden – schließlich geht es um das glückliche Leben für alle.
Quellen und Anmerkungen
(1) Nossrat Peseschkian (1933-2010) war ein deutscher Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut iranischer Herkunft. Er entwickelte 1968 die Methode der Positiven Psychotherapie. Grundlage ist das “positive Menschenbild”. 2002 erschien sein Buch “Der nackte Kaiser – oder: Wie man die Seele der Kinder und Jugendlichen versteht und heilt” (Fischer Verlag, Frankfurt am Main).
(2) Bertolt Brecht (1898-1956) war Dramatiker, Lyriker und Begründer des dialektischen Theaters (bezehungsweise epischen Theaters). Seine Werke werden weltweit verbreitet und aufgeführt.
(3) Das Werk “Vom Geist der Gesetze” des französischen Schrifstellers, Philosophen und Staatstheoretikers Charles de Secondat, Baron de Montesquieu wurde 1748 anonym unter dem Originaltitel De l’esprit des loix in Genf erstveröffentlicht. Montesquieus Werke unterlagen der Zensur. 1751 wurde “Vom Geist der Gesetze” auf den Index gesetzt.
(4) Johannes Robert Becher (1891-1958) war Dichter, nach dem Zweiten Weltkrieg Politiker, in der Deutschen Demokratischen Republik Minister für Kultur sowie erster Präsident des Kulturbundes der DDR. Er wurde bekannt als Verfasser des Textes der Nationalhymne der DDR.
Foto: Analia Baggiano (Unsplash.com)
Frank Nöthlich (Jahrgang 1951) wurde in Neustadt/Orla (Thüringen) geboren. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und sechs Enkelkinder. Er studierte Biologie, Chemie, Pädagogik, Psychologie und Philosophie von 1970 bis 1974 in Mühlhausen. Nach dem Studium war er an verschiedenen Bildungseinrichtungen als Lehrer tätig. Von 1985 bis 1990 war er Sekretär der URANIA-Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse. Später arbeitete er als Pharmaberater und ist heute Rentner und Buchautor (www.briefe-zum-mensch-sein.de). Er sagt von sich selbst, dass er als Suchender 1991 in der Weltbruderkette der Freimaurer einen Hort gemeinsamen Suchens nach Menschenliebe und brüderlicher Harmonie gefunden hat.