Während in Minsk und anderen belorussischen Städten Hunderttausende auf die Straße gehen und für Veränderungen demonstrieren, und die Bundesregierung, von der Kanzlerin über den Außenminister bis zum Regierungssprecher, die Bewegung über alle Maßen loben, ruft die französische Volksbewegung, die ähnliche Ziele verfolgt, nach einem Jahr im kommenden September zu Großdemonstrationen auf. Das Lob, das von offizieller Seite an die Bevölkerung in Belarus geht, hat eine Entsprechung im Falle Frankreichs: Eisiges Schweigen.
Geist und Haltung
Nun kann man sicherlich sagen, dass Frankreich sowohl eine andere Verfassung als auch eine andere Tradition als Belarus hat. Betrachtet man jedoch die Methoden, mit denen in Frankreich einer Bewegung entgegengetreten wurde, die sich gegen die drastischen sozialen Auswirkungen einer wirtschaftsliberalen Politik wenden, dann sind Vergleiche angebracht.
Die vielen Verhafteten, die ohne Prozess seit Monaten in Gefängnissen sitzen, die von Geschossen Verstümmelten und die Toten sind drastischer als das, was aus Belarus berichtet wird.
Und, um einer immer wieder anzutreffenden Verwahrlosung von Geist und Haltung gleich zu begegnen: Nein, weil in Frankreich Menschenrechte und Demokratie mit Füßen getreten werden, rechtfertigt das Ähnliches weder in Minsk noch in Hongkong. Aber es muss darüber geredet werden.
Doppelte Standards
Was in diesem Land nicht verstanden wird, ist die verheerende Wirkung der nahezu zur Alltagspraxis gewordene Anwendung doppelter Standards. Dieselben Leute, die bei Aktionen, die für den offiziellen Regierungskurs werben, gerne einmal die Teilnehmerzahlen nach oben schummeln, geraten außer sich, wenn das bei Gegnern der offiziellen Politik geschieht.
Die selben Leute, die Krokodilstränen weinen, wenn Randalierer in Hongkong festgenommen werden, sprechen von terrorähnlichen Zuständen, wenn angetrunkene Jugendliche nach monatelangem Lockdown über die Stränge schlagen. Und dieselben Leute stellen Kerzen für russische Oppositionelle auf und scheren sich einen Dreck darum, wenn ein Julian Assange gegen Recht und Sitte in einem Hochsicherheitsknast dahinmodert.
Was, und das ist die Frage, auf die es ankommt, macht das mit den Menschen, die in der Lage sind, diese Vergleiche zu sehen und entsprechende Schlüsse ziehen?
Sie dann auch noch zu verunglimpfen und entweder als Kollaborateure mit dem Feind zu titulieren oder als verwirrte Opfer von Verschwörungstheorien darzustellen, produziert einen Konflikt, der noch gewaltige Ausmaße annehmen wird. Und: Nein! Das wird keine politische Auseinandersetzung im klassischen Sinne, sondern da werden sich die Zorndepots entladen, wie es lange nicht mehr geschehen ist.
Wer nicht in der Lage ist, diesen Mechanismus zu identifizieren, weist gravierende Defizite im politischen Verständnis auf. Da zahlt sich aus, dass Technokraten, die keine Bindung zu den Lebensbedingungen der schwachen Gesellschaftsglieder haben, das Ruder in der Hand halten. Bis auf wenige Stimmen ist allerdings nichts zu hören. Stattdessen übt man sich in moralischer Entrüstung und spricht von Radikalisierung derer, die der doppelten Standards überdrüssig sind. So kann man es auch sehen, nur lösen wird es nichts.
Dirty Boulevard
Das Reklamieren der Werte im demokratischen Westen ist ein Verweis auf das Gedankengut der Aufklärung. Letztere bereitete die bürgerliche Gesellschaft vor, und sie bildete das Interieur der modernen Staaten.
Global gesehen war das eine geographisch wie zeitlich sehr begrenzte Episode. Wer daraus einen globalen, universalen Anspruch ableitet, hat Geschichte nie verstanden.
Wer dies tut, und sich dabei selbst nicht einmal an das von ihm Reklamierte hält, mag bei denen, die sich das unwürdige Schauspiel mit ansehen müssen, Zorn erregen. In historischem Maßstab ist es eine Posse. Die Wahrheit ist unteilbar. Doppelte Standards sind ein schlechter Witz.
Quellen und Anmerkungen
Der Begriff Aufklärung bezeichnet eine um das Jahr 1700 einsetzende Episode der gesellschafrtlichen Entwicklung, in der durch rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen zu überwinden gesucht wurde. Es wurde versucht, Akzeptanz für neu erlangtes Wissen zu schaffen.
Seit etwa 1780 bezeichnet der Begriff ebenfalls die geistige und soziale Reformbewegung (inklusive ihrer Vertreterinnen und Vertreter) und das zurückliegende Zeitalter der Aufklärung in der Geschichte Europas und Nordamerikas. Es wird in der Regel auf die Zeitspanne von etwa 1650 bis 1800 datiert.
Die Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz, mit der sich von althergebrachten, starren und überholten Vorstellungen und Ideologien gegen den Widerstand von Tradition und Gewohnheitsrecht befreit werden soll, gilt als wichtiges Kennzeichen der Aufklärung. In der Epoche selbst gehörten der Kampf gegen Vorurteile, die Hinwendung zu den Naturwissenschaften, das Plädoyer für religiöse Toleranz und die Orientierung am Naturrecht dazu.
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.