Ivan Illich hieß er, und er formulierte einen für seine Zeit wie für heute provokativen Ansatz. Illich, seinerseits oft als Austroamerikaner bezeichnet und nicht zufällig dort auf die Idee gekommen, von wo aus eine Generation später die digitale Revolution ins Rollen gebracht wurde.
Erst freies Wissen, dann Geschäftsidee
Sein “Plädoyer für die Abschaffung der Schule” brachte die ganze Vermittlerkaste in Schnappatmung. Er hielt die Institutionalisierung von Wissensvermittlung und Erziehung für das Konzept von Repression schlechthin. Laut Illich war die Gesellschaft sehr wohl in der Lage, ohne Institutionen der Jugend die Bildung zu vermitteln, derer es bedarf, um ein erfolgreiches Leben zu führen.
Heute liegt sein Approach, wie man in seinem Kulturkreis sagt, in den Hippie-Annalen, obwohl der Mann ein engagierter Theologe war und mit vielen anderen Beiträgen das technokratische Zeitalter mit Präzision an seinen kritischen Punkten erwischt hatte. Praktische Relevanz hatte die Schul-These, bis auf einzelne experimentelle Inseln, nicht. Und politische Konsequenzen schon gar nicht.
Die “Kinder” Illichs, jene Zuckermans und wie sie alle heißen, haben in einer nicht von Illich beabsichtigten Form seine These von der Abschaffung der Schule de facto realisiert.
Indem sie einerseits das gesamte Weltwissen privatisierten, es aber trotzdem Jeder und Jedem von jedem Ort der Welt aus zugänglich machten, hatten sie die Gebäude, in denen klassischer Weise gelernt und Wissen vermittelt wird, in ihrer überragenden Bedeutung abgefackelt. Und das ganze Heer der Pädagogen, Psychologen und Philologen scheinen, die Auffassung ist aktuell und weit verbreitet, Modelle aus einer längst verblichenen Zeit zu sein.
Das institutionelle Lernen weicht mehr und mehr Angeboten, die meistens sogar aus nicht kommerziellen Quellen gespeist werden. Erst, wenn sie genügend Interessenten finden, kommt die Geschäftsidee. Doch, der Ursprung von in der digitalen Welt erstellten Lern- und Bildungsangeboten kommt tatsächlich aus der Gesellschaft. Abgeschafft ist die Schule längst nicht, aber ihre faktische Relevanz sinkt, zumindest in den Augen derer, um die es geht.
Digitalisierung und Zerstörung
Die Welt in ihrem Digitalisierungsstatus scheint vieles zum Einstürzen zu bringen, was als fester Bestandteil mehr oder weniger menschheitsgeschichtlicher Gewissheiten gegolten hat. Dazu gehört die Schule, und dazu ist das geistige Eigentum zu zählen. Beides wird de facto negiert. Und beides wird nicht thematisiert. Es scheint, als sei die Menschheit in einem Schockzustand und alles liefe um sie weiter, ohne dass sie in der Lage wäre, bei vollem Bewusstsein in das Geschehen einzugreifen.

Und viele Menschen denken, oder hoffen, dass, wenn sie sich erst einmal geschüttelt haben und wieder handlungsfähig sind, dann würde einiges korrigiert werden können. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Aber historische Reversibilität hat es noch nie gegeben.
Die Zerstörung alter Ordnung beinhaltet nicht unbedingt die Zerstörung aller Gewissheiten. So, wie die rasante Auslöschung von allem, was vermittelt, wie Lehrer, Händler und Politiker, vonstatten geht, so sehr werden auch Erkenntnisse unterstrichen, die nur noch als antike Reminiszenz galten. Alles fließt, wer würde das heute nicht als eine relevante Alltagsfloskel betrachten? Und dazu gehört auch das Alles kommt zurück!
Digitalisierung: Alles vergesellschaftet?
Was die dramatische Zerstörung gesellschaftlich relevanter Institutionen versucht zu legitimieren, ist das ständig wiederholte Momentum der allzeitigen und allseitigen Verfügbarkeit alles dessen, was die Menschheit begehrt. Das ist ein schönes spirituelles Angebot, aber es entspricht nicht den realen Verhältnissen.
De facto haben wenige Individuen, übrigens weltweit, auch die Zuckermans haben Pendants in China, das historische Eigentum der Menschheit für ihre Zwecke privatisiert. Und sie haben gleichzeitig die Institutionen gemeuchelt, die einem Monopol im Wege standen. Da ist nichts zu beschönigen. Ja, alles ist vergesellschaftet. Und ist es immer noch in privaten Händen?
Quellen und Anmerkungen
Ursprünglich beschrieb der Begriff Digitalisierung die medizinische Behandlung eines Menschen mit Substanzen, die aus Pflanzen der Gattung Fingerhüte (Digitalis) gewonnen werden. bezeichnet.
Seit etwa den 1970er Jahren wird unter Digitalisierung vor allem das Umwandeln von analogen Werten in digitale Formate sowie ihre Verarbeitung oder Speicherung in einem digitaltechnischen System verstanden. Die zu speichernde oder zu verabreitende Information liegt zunächst in beliebiger analoger Form vor und wird über mehrere Stufen in ein digitales Signal umgewandelt. Dieses besteht nur aus sogenannten diskreten Werten.
Von Digitalisierung wird ebenfalls im Zusammenhang mit der Beschreibung der Digitalen Revolution und der Digitalen Transformation gesprochen, die sich sowohl in der Wirtschaft- und Arbeitswelt vollzieht, aber auch das Gesellschafts- und Privatleben massiv verändert und beeinflusst.

Fotos: Algernai Hayes (Unsplash.com) und Adrift Animal (eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=73602782)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Digitalisierung: Vergesellschaftet und doch privat?“
Abschaffung scheint heutzutage das große Modewort zu sein. Abschaffung der Polizei, der Schule und wie jetzt in Berlin gefordert des Grundbesitzes. Der freie repressionsfreie Mensch neigt dann anscheinend automatisch zum Guten.