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Meinung

Totem und Tabu: Der Fall Alexei Nawalny

Wem nützt es, wenn Alexei Nawalny als Opfer des russischen Geheimdienstes erscheint? Russland oder den USA?

Jetzt stehen sie plötzlich wieder im Rampenlicht, die Strategen der zweiten Reihe. Der versuchte Mord an dem russischen Oppositionellen Alexei Nawalny wird zum Anlass genommen, um eine schnelle Umsetzung des US-amerikanischen Ansatzes in Sachen Russland zu popularisieren.

Alexei Nawalny: Cui bono?

Nicht, dass es sich um eine Kleinigkeit handelte. Auch wenn nicht geklärt ist, wer da den Mann vernichten wollte, vieles deutet auf Russland hin. Dennoch, man sollte alles, was derzeit diskutiert wird, immer unter dem Aspekt betrachten, dass es sich um eine Hypothese handelt. Bei allem, was folgt, von Norbert Röttgen bis Annalena Baerbock, die Frage sei auch erlaubt: Cui bono?

Wem nützt es, wenn Nawalny als Opfer des russischen Geheimdienstes erscheint und sich daraus Sanktionen wie zum Beispiel der Stopp von North Stream II ableiten, und die dazu führen, dass amerikanisches Flüssiggas stattdessen gekauft werden muss? Russland oder den USA?

Zum anderen, es ist immer gut, wenn die Geister in Krisen aufsteigen und sichtbar werden. Der Moralchor, der bei Alexei Nawalny zu hören ist, übt sich in Schweigen, wenn es sich um die unzähligen, von deutschem Boden gesteuerten Drohnenmorde im Nahen Osten handelt.

Das Konsortium der Doppelmoral, das von zunehmend weniger Menschen ertragen wird, lässt sich dennoch in derartig heißen Situationen gut zuordnen. Jetzt kommen die Atlantiker wieder zum Vorschein. Das sind die, die präpariert wurden, um mit Moralrhetorik den geostrategischen Kurs der USA offensiv zu verfechten. Danke an Frau Göring-Eckhard!

Man möge nachdenken, wann die Menschenrechtsverletzungen, angefangen bei den Drohnenmorden, fortgesetzt in Guantanamo und nicht endend bei Julian Assange, von diesen radikalen Menschenrechtlern angeprangert worden wären?

Der Weg nach Rechts

So dreht sich die Scheibe, als läge sie schon immer auf dem Teller. Ausgewuchtet und ohne Überraschungen. Die Politik der moralischen Begründung von geostrategischen Machtinteressen ist seit langem durchschaut und wird nur noch von wenigen geglaubt.

Dass es Machtfragen und geostrategische Überlegungen gibt und geben muss, steht außer Zweifel. Wer daran rüttelt, erweist sich schnell als Illusionist. Wer jedoch anfängt, knallharte Fragen mit Kerzenduft beantworten zu wollen, beginnt mit einem Gut zu spielen, das, wenn es erst einmal verloren ist, zu keinem guten Ende führen kann. Gemeint ist das Vertrauen in diejenigen, die da handeln.

Und, das sei allen genannt, die davon träumen, dass der Vertrauensverlust und Unmut unweigerlich in eine demokratische Neuordnung mündete:

Sehen Sie sich an, wohin diejenigen laufen, die das Vertrauen verloren haben, egal, in welchem Land der westlichen Welt. Die erste Reaktion trägt sie nach Rechts.

Umso schwerer wiegt das doppelmoralische Spiel. Diejenigen, die es betreiben, sind sich dessen nicht bewusst. Sie wirken wie imprägniert gegen die Erkenntnis, dass ihre Manöver enttarnt werden und die Reaktion auch noch die ist, die sie gar nicht mögen.

Tabu und Totem

Die inneren Motive für dieses Handeln sind, neben den kollektiven Verblendungsmechanismen, auch in einer gehörigen Portion Angst begründet. Denn, einmal Hand aufs Herz: Wer traute sich denn wirklich zu, den USA in strategischen Fragen die Stirn zu zeigen? Darüber zu sprechen, ist natürlich nicht erlaubt.

Fast könnte einem, wenn es nicht so ernst wäre, die Spielerei in den Kopf kommen, die Konstellation mit einem kleinen Werk Sigmund Freuds zu deuten: Das Machtverhältnis zwischen USA und der Bundesrepublik unterliegt dem Tabu. Und die Moral, mit der man schreiend durch die Welt schreitet, ist das kompensatorische Totem.


Quellen und Anmerkungen

Norbert A. Röttgen (Jahrgang 1965) war von 2005 bis 2009 Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und in der darauf folgenden Koalition von Union und FDP von 2009 bis 2012 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.

2012 scheiterte er als Spitzenkandidat der CDU bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und wurde als Bundesminister entlassen. Röttgen blieb weiterhin Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Seit 2014 ist er Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses.

Im Zusammenhang mit der Vergiftung des Kremlkritikers Alexej Nawalny stellte Röttgen mit Blick auf die Regierung von Russland unter anderem die Behauptung auf, das ein solches Verbrechen “oben entschieden” würde. Das “öffentliche Sterben” diene zur Einschüchterung der eigenen Bevölkerung.

Bezüglich möglicher Sanktionen, die eine Einstellung des Projekts “Nord Stream” beinhalten könnten, sagte Norbert Röttgen gegenüber dem staatsnahen Medium ZDF heute, dass, würde es zu einer Vollendung von Nord Stream kommen, dies die “maximale Bestätigung” für Russlands Präsident Wladimir Putin sei, dass dieser “genau die richtige Politik macht”(siehe: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/nawalny-russland-roettgen-heute-journal-100.html; Link abgerufen am 4.9.2020).


Annalena Baerbock (Jahrgang 1980) ist seit Januar 2018 ist gemeinsam mit Robert Habeck Bundesvorsitzende der Grünen. Von 2012 bis 2015 war sie Mitglied des Parteirats von Bündnis 90/Die Grünen und von 2009 bis 2013 Vorsitzende des Landesverbands Brandenburg.

Im Zusammenhang mit der Vergiftung von Alexei Nawalny forderte sie als Reaktion gegenüber dem SPIEGEL (siehe: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/annalena-baerbock-zu-russland-und-nawalny-gruenen-chefin-will-nord-stream-2-stoppen-a-53cc7c66-ef92-4662-8807-e81b7645389b) den sofortigen Baustopp der Gaspipeline Nord Stream II.


La Diada 2020 live from Vienna and Barcelona. Online-Event 10.9.2020 on YouTube. (Illustration: Neue Debatte)
La Diada 2020 | Live aus Wien und Barcelona | Donnerstag, 10.9.2020, um 18.30 Uhr | Mit Kunst, Kultur, Musik, Diskussion und Neue Debatte

Foto: Nathan Dumlao (Unsplash.com)

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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