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Meinung

Deutschland: Wahn und Politik

Der in Regierungskreisen und einigen Parteien gepflegte Wahn, man könne im ganz großen Spiel um die globale Herrschaft dabei sein, wenn man nur wollte, setzt nicht nur Deutschland unüberschaubaren Risiken aus.

Von “You’ll never walk alone” bis “Einen Finger kann man brechen, fünf Finger bilden eine Faust” existieren unzählige Aussagen und Bilder, die unterstreichen sollen, wie wichtig es ist, nicht nur nicht alleine zu sein, sondern auch noch Mitstreiter zu haben, wenn es darauf ankommt. Dabei existiert eine Korrelation dieser Notwendigkeit mit den eigenen Mitteln.

Deutschland und die Macht

Je weniger Macht und Reichtum die Einzelnen haben, desto notwendiger ist die Assoziation. Und je mächtiger sie sind, desto mehr können sie auf den Zusammenschluss verzichten. So glauben sie.

Wie es sich mit den einzelnen Individuen verhält, so ist es auch mit Ländern und ihren Staaten. Der Kampf um Vorherrschaft auf diesem Globus ist so alt wie die Gattung. Reichen kamen, herrschten und vergingen. Und so ist es auch heute.

Das 20. Jahrhundert war von zwei Weltkriegen erschüttert worden, in denen es um Macht und Vorherrschaft ging. Die Ordnung, die nach dem letzten großen Krieg entstand, hielt 46 Jahre, danach implodierte die Sowjetunion, mit den USA als Gewinnerin des Debakels.

Nach 1991 herrschten die USA allein, bis mit der Weltfinanzkrise 2008 ihr Abstieg eingeleitet wurde. Das sind 17 Jahre! So, wie es scheint, werden die Halbwertzeiten kürzer. Wer jetzt den Anspruch formuliert, die neue Weltordnung entscheidend mitzuschreiben, ist China, während Indien wohl noch etwas brauchen wird.

In diesem Kontext ist der Versuch vor allem Deutschlands zu sehen, mit dem Konstrukt der Europäischen Union einen Machtblock zu schaffen und zu führen, der es aufnehmen kann mit den Schwergewichten auf der Welt.

… nicht mehr als Wirtschaft

Die Macht, auf die sich Deutschland dabei beruft, ist die wirtschaftliche. Das allein, soviel ist in den Geschichtsbüchern zu lesen, hat allerdings noch nie gereicht. Was noch dazu gehört, ist ein schlagfähiges und erprobtes Militär und, wenn es um Weltherrschaft geht, das Ausströmen einer kulturellen Faszination. Man denke an die Zeit des US-amerikanischen Aufstiegs in der Weltordnung und die Strahlkraft ihrer damaligen Musik, der Literatur, der bildenden Künste, des Sports.

Dem Deutschland im Jetzt-Zustand sind diese beiden Faktoren, Militär und Kultur, nicht zu attestieren. Was, wenn die pure Wirtschaftskraft nicht ausreicht, um im ganz großen Spiel um die globale Herrschaft dabei zu sein, in diesem Fall erforderlich wäre, sind handfeste Bündnisse, in dem andere bereit wären, dem Willen des leitenden Partners zu folgen. Die NATO ist es nicht, denn sie orientiert sich nach wie vor am Konkurrenten USA. Und die EU hat keine Streitkräfte.

Diejenigen, die ernsthaft eine Rolle spielen könnten, haben sich mit Großbritannien davon gemacht und Frankreich hat besseres vor, als Deutschland wie ein kleiner Bruder zu folgen.

Wie überhaupt hat die dicke Zunge, wie man in Berlin so schön sagt, dem Wirtschaftsriesen, der zudem in dieser Domäne einiges verschlafen hat, es sich mit allen verscherzt, die dafür infrage kämen. In der EU sieht es schlecht aus, in Osteuropa, in Südeuropa, was vielleicht bliebe, ist das alte Benelux.

Mit den USA, die ihre globale Strategie in Bezug auf Deutschland verändert haben, ist es vorbei, gegen Russland geht man seit langem vor, und nun steht als nächster deklarierter Kontrahent China auf dem Programm. So wie es aussieht, stimmt die Devise: Feinde ringsum!

Die psychopathische Verwirrung

Was übrig bleibt, ist das Konsortium von Besserwissern und Moralisten im eigenen Land, die meinen, sie könnten die Welt beherrschen, wenn sie nur wollten. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich diese Haltung als eine psychopathische Verwirrung, die das Land unüberschaubaren Risiken aussetzt.

Der Wahn, der in Regierungskreisen wie einigen Parteien gepflegt wird, man müsse diese Politik fortsetzen, läuft auf schwere Verwerfungen hinaus, die im Krieg enden müssen. Wahn und Politik, so dachte man, hätten sich mit dem Dritten Reich erledigt, aber dem scheint nicht so zu sein.

So, wie derzeit kommuniziert wird, ist ein Dialog nicht mehr möglich. Sie haben bereits auf Sturm geschaltet. Sie wollen ins Feld, ohne Militär, ohne kulturelle Hegemonie und ohne Freunde. Können sie noch aufgehalten werden?


Foto: The New York Public Library (Unsplash.com)

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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