Was unter dem Namen “Neue Deutsche Ostpolitik” figurierte, war der letztendlich erfolgreiche Versuch, aus einer nahezu aussichtslosen Situation eine Wende im Denken herbeizuführen. Willy Brandt (1), der Visionär, und Egon Bahr, der Konstrukteur, machten sich daran, eine Straße zu bauen, die aus der immer am Rande eines heißen stehenden Kalten Krieges herausführen sollte.
Weise Voraussicht: Wandel durch Annäherung
NATO und Warschauer Pakt standen sich waffenbehangen gegenüber und die Nahtstelle war die Grenze von BRD und DDR. Die Sowjetunion, die den Osten dominierte, war ein Monolith nach innen wie nach außen. Verglichen mit den damaligen Bedingungen, ist die heutige russische Gesellschaft offen und liberal. Dennoch fanden die beiden Sozialdemokraten, übrigens mit den Freien Demokraten in einer Regierungskoalition, einen Weg, um erste Schritte aus der eisigen Kälte gehen zu können: Es war die Ökonomie.
Die Neue Deutsche Ostpolitik kombinierte Geschäftsbeziehungen mit politischen Zielen. Es ging darum, den stets skeptischen Verhandlungspartnern die Einsicht zu vermitteln, dass wirtschaftliche Kooperation der eigenen Seite gut taten und dass eine Verbesserung des politischen Klimas dazu führte, dass die Geschäfte immer besser liefen.
Wandel durch Annäherung nannten das die Architekten dieser neuen Politik. Trotz mancher Rückschläge ließen sie sich nicht von diesem Kurs abbringen, der letztendlich zum Ende des Kalten Krieges führte und der dazu beitrug, dass Deutschland wiedervereinigt wurde.
Das entscheidende Land
Die Umstände, die dazu führten, sollten sich alle vergegenwärtigen, die nun allzu gerne nach Sanktionen gegen Russland schreien und wie die letzten Goebbels-Propagandisten vom Putin-Land sprechen, wenn sie Russland meinen.
Die Gespräche, die zur Wiedervereinigung führten, waren dadurch gekennzeichnet, dass die USA wie die Bundesrepublik versicherten, dass es bei Abruf der sowjetischen Truppen zu keinem Nachrücken der NATO-Verbände nach Osten kommen sollte. Bereits ein Jahr später zerfiel die Sowjetunion in ihre Einzelteile und der Wolf roch den Braten.
Russland, das vom britischen Imperial-Geologen Sir Halford J. Mackinder (2) bis zum amerikanischen Hegemonie-Theoretiker Zbigniew Brzeziński als das Stück Land ausgemacht wurde, dass man besitzen müsse, um die Welt zu beherrschen, zeigte Schwäche. Und schon wurden Rezepte ausgetauscht, wie der Braten zuzubereiten sei.
Jelzin und das Chaos
Der Moment der Staatslosigkeit wurde von Oligarchen genutzt, um sich mit Hilfe von Privatarmeen anzueignen, was anzueignen war. Es herrschte die Anomie der nackten Gewalt. Das Volk hungerte und die Grundversorgung mit allem Notwendigen setzte aus, während andere ungeheure Werte ins Ausland verschleppten.
Die mit dem Namen Boris Jelzin (3) verbundene Phase dieses Raubes galt im vereinigten Westen als willkommenes Tauwetter. Währenddessen rückte die NATO Schritt für Schritt ostwärts, von Nord nach Süd, vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer.
Dann erschien Wladimir Putin auf der Bühne und setzte diesem Treiben ein Ende. Der Verschluss russischer Ressourcen und Märkte für aus dem Westen geplante Raubzüge und die Verfolgung der Oligarchenbanden hat ihm der Westen nie verziehen. So viel nur zur Metapher der Wertegemeinschaft. Seitdem hat Putin sich als Staatsfeind Nummer Eins etabliert. Egal, was im internationalen Kontext passiert und dem Westen nicht schmeckt, dahinter steckt Putin.
Verlorener Verstand in der Ostpolitik
Wenn es einen Beleg für die Gleichschaltung von Presse und Medien gibt, dann ist es die Berichterstattung über Russland. Und wenn es eines Nachweises bedarf, wie tief im populistischen Sumpf, der durch die Medien bereitet wurde, die offizielle Politik bereits versunken ist, dann höre man sich den Außenminister an.
Interessengeleitete Politik mit einer Strategie, die die diplomatischen Gepflogenheiten wahren, die übrigens das Resultat des Dreißigjährigen Krieges sind, von all dem hat dieser Populist noch nichts gehört. Beim Vergleich der Neuen Deutschen Ostpolitik und der heutigen Russlandpolitik der Bundesregierung, dann handelt es sich um eine Mutation von weiser Voraussicht zu verlorenem Verstand.
Wären sie da, die Architekten der Neuen Deutschen Ostpolitik, so fiele es nicht schwer, sich ihre Reaktion vorzustellen: Der eine verließe resigniert das Zimmer, der andere versetzte ihm eine schallende Maulschelle.
Quellen und Anmerkungen
(1) Willy Brandt (1913 – 1992) war Politiker (SPD), Regierender Bürgermeister von Berlin und von 1966 bis 1969 Außenminister sowie Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland im Kabinett Kiesinger. Von 1969 bis 1974 war Brandt Regierungschef einer sozialliberalen Koalition von SPD und FDP. Brandt war außerdem SPD-Parteivorsitzender (1964 bis 1987) und Präsident der Sozialistischen Internationale (1976 bis 1992). Als Bundeskanzler leitete er eine neue Ostpolitik ein und begann im Kalten Krieg einen Kurs der Entspannung (Ostverträge) gegenüber der Sowjetunion, aber auch der DDR, Polen und den anderen Ostblockstaaten. Mehr Informationen auf www.willy-brandt-biografie.de im Netz.
(2) BBC (7.2.2019): The blueprint for world domination that spooked America. Auf https://www.bbc.co.uk/ideas/videos/the-blueprint-for-world-domination-that-spooked-am/p07087xd (abgerufen am 18.9.2020).
(3) Russland Analysen (Nr. 132; 27.4.2007): Boris Jelzin – kommunistischer Funktionär und demokratischer Revolutionär. Auf https://www.laender-analysen.de/russland/pdf/Russlandanalysen132.pdf (abgerufen am 18.9.2020).
Foto: Vladimir Malyavko (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.