Hat man erst einmal einen Dämon ausgemacht, erübrigt sich weiteres Nachforschen nach den Ursachen der Kalamitäten, mit denen man konfrontiert ist. Alles, was Verdruss erzeugt, erscheint dann auf der Rechnung des definierten Missetäters. Das entlastet.
Weitere Beobachtung ist nicht nötig. Die Empörung bleibt, aber der Genuss, eine eindeutige Erklärung für das Übel zu haben, entlastet auch wieder. Denn wenn alles erklärt ist, kann man sich voll drauf konzentrieren, den Dämon direkt zu bekämpfen.
Den Dämon als Sündenbock erkennen
Das schöne Konstrukt bricht jedoch zusammen, wenn sich herausstellen sollte, dass einiges oder sogar vieles, das man dem Delinquenten zugeschrieben hat, aus anderen Quellen stammt.
Ob man es weiß oder nicht, auf einmal wird aus dem schönen Dämon ein armer Sündenbock, der dafür gerade stehen muss, was sich die mit dem selbst verordneten eingeschränkten Blick nicht erklären können. Dann ist alles viel komplizierter als gedacht und der Schaden, der zu beklagen ist, wird größer als jemals befürchtet.
Die Formel Putin = Russland ist zum Standard der hiesigen Darstellung aller Geschehnisse geworden, die die Gemüter erhitzen. Es wird suggeriert, dass alles, was in dem riesigen Russland geschieht und was in unseren Breitengraden ein Gefühl des Unbehagens auslöst, nur eine Ursache haben kann: Wladimir Putin.
Putin hier und Putin dort. Wendete man eine solche Banalisierung des politischen Blickes auf unsere eigenen Verhältnisse an, dann wäre man mitten drin im Sprachgebrauch der neuen, radikalen Rechten. Da heißt es auch, Merkelland, Merkel ist für alles verantwortlich, was irgendwem nicht schmeckt.
Dass eine solche Betrachtung und Erklärung gerade von denen moniert wird, die es selbst im Blick auf Russland genau so tun, dokumentiert zweierlei: bei einem Teil den Grad der Verblendung, bei einem anderen Teil eine nahezu agentenhafte, propagandistische Vorgehensweise. Ob das noch mit der eigenen Staatsdoktrin korrespondiert?
Die Öl ins Feuer schütten …
Und jetzt wird es brisant. Nehmen wir einmal an, nein, nicht, dass amerikanische oder sonstige Geheimdienste, die auch und nachweislich über das Nervengift Nowitschok verfügen, hätten etwas mit dem Attentat an dem nationalistischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny zu tun, sondern bestimmte, in Opposition zu Präsident Putin stehende russische Kräfte, die sich ganz woanders befinden als im Spektrum der politischen Parteien.
Das könnten in ihrem Treiben von diesem beschnittene Oligarchen sein, aber auch Hardliner aus den eigenen bewaffneten Formationen, die sich nach den Zeiten der messerscharfen Konfrontation mit dem Westen sehnen.
Letztere waren es, deren Ansehen und Einfluss in den letzten drei Jahrzehnten schwer gelitten hat und die aufgrund der unentwegten Ostexpansion des Westens Richtung russischer Grenze wieder Morgenluft wittern. Sie hätten gute Gründe, Öl ins Feuer zu gießen und die Konfrontation mit dem Westen weiter anzufachen.
Der Totschläger namens Verschwörungstheorie ist genauso einfältig wie das Mittel der exklusiven Dämonisierung. Beides versperrt die Sicht auf komplexe Strukturen und ihre inneren Widersprüche. Gesetzt den Fall, es wäre so, wie gedanklich angeboten, was hieße das dann? Es bedeutete, dass der Dämon Putin sogar ein Verbündeter sein könnte gegen weitaus gefährlichere Gefährder des bereits mehr als fragilen Friedens. Die Banalität, die hinter dem Verbot in diese Richtung zu denken steht, ist der mögliche Gesichtsverlust der Dämonsierer.
Und schon wird deutlich, in welchem Tal des politischen Denkens wir uns mittlerweile befinden. Die ganze Corona, und dieser Begriff ist bewusst gewählt, der politischen Scharfmacher gegen Russland und Putin hat anscheinend kein Interesse daran, alle Möglichkeiten der Erklärung durchzuspielen. Wie schön ist es doch, den Dämon bis ins eigene Grab zu pflegen. So selbstvergessen macht der eigene Todestrieb! (1)
Quellen und Anmerkungen
(1) Sigmund Freud (1856 – 1939) führte den Begriff “Todestrieb” als Spekulation in die Theorie der Psychoanalyse ein. In seiner 1920 verfassten Schrift “Jenseits des Lustprinzips” führte Freud seine Überlegungen aus. Der Todestrieb bildet demnach den Gegenpol zu den Lebenstrieben.
Laut Freud strebt der Todestrieb quasi nach Zurückführung des Lebens in den anorganischen Zustand des Unbelebten (Starre und Tod). So wäre auch der Wiederholungszwang sowie das Bestreben des Subjekts nach Erhaltung und Stillstand, wie es zum Beispiel im ritualisierten Handeln der Zwangsneurose zum Ausdruck kommt, als Äußerung des Todestriebs zu verstehen. Mehr Informationen auf Spektrum.de (abgerufen am 27.9.2020).
Foto: Zane Lee (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.