Stillstand. Objektiv existiert er nicht. Da muss ich immer an den schönen Satz von Ibn Arabi denken: Der Ursprung des Daseins ist die Bewegung. Recht hat er. Was sich nicht bewegt, existiert nicht. Und genau das ist es, was mir den Stillstand so suspekt macht, der natürlich immer nur gefühlt sein kann, weil er objektiv ja gar nicht existiert.
Bewegungsrichtung Tod
Der Stillstand ist das Ansinnen, die Spielregeln des Lebens nicht einhalten zu wollen. Auch das ist verständlich, weil die absurde Bewegungsrichtung des Lebens letztendlich immer der Tod ist. Insofern scheitern wir alle. Wenn wir das nicht reflektieren, so handelt es sich um ein intendiertes Tabu, um den Spaß an der Sache nicht zu verlieren. Wer hat schon Lust, immer zu wissen, dass man irgendwann sowieso dem Sensenmann in die Arme läuft.
Und diejenigen, die die Vorwärtsbewegung durch den inszenierten Stillstand aufhalten wollen, machen das aus dem Motiv der Todesangst. Sie wollen die eherne Gesetzmäßigkeit des Lebens außer Kraft setzen und nehmen dabei sogar in Kauf, die Zeit, die hier auf diesem Planeten bleibt, nicht etwas besser, schöner, sinnvoller machen zu wollen. Nein, es soll alles so bleiben, wie es ist und wenn möglich, möglichst lange. Wenn man so will, der Tod im Leben.
Die Apologeten des Stillstandes wollen den Tod im Leben, um den Tod am Ende möglichst lange hinauszuschieben. Absurd, aber wahr. Deshalb gibt es auch zwanzigjährige Greise und Vierzigjährige, die über Erfahrungen von Achtzigjährigen verfügen.
Neben denen, die den Stillstand favorisieren, existieren nämlich auch noch die, die über eine, um zu zitieren, neurasthenische Angst vor dem Stillstand verfügen. Sie versuchen, alles zu gestalten und zu beschleunigen. Ob sie sich analog zu den Verfechtern des Stillstandes wirklich immer bewusst machen, was sie treiben, sei dahin gestellt.
Sicher ist jedoch, dass sie über die Qualität, die die Beschleunigung des Daseins mit sich bringt, die gefühlte Lebenszeit essenziell bereichern, weil sie sie mit Erfahrung verdichten. Auch sie werden scheitern, das ist die Regel, und wenn nicht schon zu Lebzeiten, dann spätestens an der Erkenntnis, dass die Dauer des Aufenthaltes auf diesem Planeten immer zu kurz ist, um die Komplexität des hiesigen Daseins zu erfassen. Dennoch werden sie weitermachen, denn die Neurasthenie ist nicht zu unterschätzen.
Stillstand und Beschleunigung
Über diesen Clash of Civilizations ist in der Moderne noch nicht sonderlich viel nachgedacht worden, sollten wir aber machen. Denn die unterschiedliche Position zum Sinn des Lebens einmal festzumachen an der gewissen Endlichkeit, ist gefährlich. Die Menschen in unaufgeklärten, tief religiösen Epochen waren da cooler. Sie wussten um die Endlichkeit und hatten ein Konzept für das Danach, was ja nicht unangenehm sein musste.
Mit der Materialisierung der Betrachtung des Daseins, das heißt Aufklärung, Wissenschaft und Industrialisierung, war dieser Spuk vorbei. Aber der große Wurf ist épistémologisch dennoch nicht gelungen (1). Anstatt einer famosen Begründung für die Liquidierung des Gottes zugunsten einer neuen Dimension, wurde ein recht antiquiertes Tabu errichtet. Wir denken einfach öffentlich nicht mehr über die Endlichkeit nach.
Unabhängig davon ist der beständige Kampf zwischen Stillstand und Beschleunigung das wohl probateste Stilmittel der menschlichen Existenz. Der Stillstand fordert die Geister der Gestaltung heraus und bietet ihnen die Reibungsfläche. Daraus entsteht oft vieles, das nützlich ist und manchmal sogar etwas Großes. Und das wegen eines Phänomens, das im strengen Sinne gar nicht existieren kann.
Quellen und Anmerkungen
Der Begriff der Épistémologie wird synonym für Erkenntnistheorie verwendet. Dabei handelt es sich bei der Erkenntnistheorie um ein Teilgebiet der Philosophie, das sich mit der Frage nach den Bedingungen von begründetem Wissen befasst.
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.