Wer schon einmal die Verabschiedung eines Schulrektors oder einer Schulrektorin erlebt hat, kann sich vorstellen, dass die regelmäßige Teilnahme an solchen Veranstaltungen durchaus die Lage schafft, gehörig traumatisiert zu werden.
Die Anzeichen von Wahnsinn
Zu sehr existiert ein Protokoll, das zwischen Erinnerungen und Persönlichem, dem konkreten Schulalltag, allgemeinen pädagogischen Statements bis zu dem Recht eines jeden, der einmal eine Schule betreten hat, etwas zu sagen reicht.
Es dauert Stunden, beginnt zumeist mit einstudierten Musikstücken der Schülerinnen und Schüler, Reden aus dem Regierungspräsidium mit uralten Zitaten aus den Personalakten der zu Verabschiedenden, salbungsvollen Worten von Kolleginnen und Kollegen, politischen Statements zur Schulpolitik von Kommunalpolitikern, mal schnippischen, mal nostalgischen Worten der Elternvertreter et cetera bis hin zu besonderen Überraschungen aus der Lehrerschaft, die durchaus schon einmal in einem Hasenballett der Lehrerinnen und den ersten Anzeichen von Wahnsinn in den Gesichtern der Besucher enden kann.
Diese Veranstaltungen sind vor allem auch wegen der pädagogischen Aussagen hervorragend für diagnostische Zwecke geeignet. Nur in selteneren Fällen entsteht auch der Eindruck, dass Schule durchaus etwas mit dem zu tun hat, wofür sie eigentlich vorbereiten soll, nämlich mit dem Leben.
Das Wesentliche
Da fällt mir persönlich eine Rektorenverabschiedung ein, die so ganz anders verlief, weil der Rektor, der da verabschiedet wurde, eine Persönlichkeit war, die eigentlich nicht in das Schema des Regierungspräsidiums passte, allerdings in der Stadt, in der er tätig war, durchaus geschätzt wurde. Es handelte sich um den Rektor einer berufsbildenden Schule, in der es vor allem um industrie-technische Ausbildungen ging.
In diese Schule ginge mehrere Tausend Schüler, die nicht unbedingt zu einem pflegeleichten oder esoterischen Publikum gerechnet werden konnten. Der Rektor hatte dort mehr als zwanzig Jahre lang den Laden geleitet, und alle attestierten ihm, es sehr erfolgreich gemacht zu haben. Das Programm der Veranstaltung war auf Wunsch des Rektors auf das Wesentliche reduziert worden.
Die entscheidenden Sätze fielen, als der festgelegte Nachfolger, ein dort bereits seit geraumer Zeit aktiver, jüngerer Lehrer ans Podium ging, sich bei dem scheidenden Rektor bedankte und ihn fragte, wie man es mache, so erfolgreich wie er zu sein.
Irrtümer. Niederlagen. Scheitern. Beherrschen.
In seiner Schlussbemerkung griff dieser die Frage noch einmal auf und antwortete sehr knapp, ihm sei es immer darum gegangen, Entscheidungen zu treffen, die mal die richtigen und mal die falschen waren.
Die falschen, für die er immer wieder Schläge bekommen hätte, seien die wichtigeren für ihn gewesen. Denn der Lernprozess, dem sich ein Mensch stellen müsse, wenn er etwas bewegen wolle, sei eine Aneinanderreihung von Irrtümern und Niederlagen. Und auch damit müsse man umzugehen lernen, sonst befürchte er Schlimmes.
Diese Worte erstaunten das Publikum, weil sie nicht zu den zitierten pädagogischen Leitsätzen passten, die vielleicht als Mainstream des Schulwesens identifiziert werden könnten.
Die Sicherheit, mit der der beschriebene Rektor das Scheitern zu einem festen Bestandteil eines weiterbringenden Lernprozesses beschrieb, steht im Gegensatz zu dem Versuch, auch die fehlerhaften Versuche als wunderbare Leistungen anzupreisen, weil sie das Ergebnis eines energetischen Aufwandes an sich sind. Das Ergebnis ist die Umwandlung der Pädagogik in einen therapeutischen Zugang, der von der wesentlichen Zweckbestimmung ablenkt.
Das Lob für den bloßen ersten Versuch scheint deplatziert zu sein, wenn es erst gar nicht mehr dazu kommt, den zweiten, dritten oder vierten Anlauf honorieren zu müssen, weil nicht eine, sondern mehrere Niederlagen zwischen dem Scheitern und dem Beherrschen liegen.
Foto: Raghav Modi (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Pädagogik: Scheitern und Beherrschen“
“…Denn der Lernprozess, dem sich ein Mensch stellen müsse, wenn er etwas bewegen wolle, sei eine Aneinanderreihung von Irrtümern und Niederlagen…” Das erinnert mich jetzt doch irgendwie total an Mathe…?
Bei einer berufsbildenden Schule ist das schon hoher Level, aber inzwischen sind ja auch die meisten Hochschulen dort angekommen, auf ein ertragreiches Berufsleben vorzu bereiten, besonders ertragreich für die “Arbeitgebenden”.