Da muss ein Professor für Theoretische Physik von der Katholischen Universität Löwen aus Belgien kommen, um den geschredderten Pazifisten, den sedierten Linken und den assimilierten Intellektuellen Europas die sprichwörtlichen Leviten zu lesen.
Humanitarian Imperialism
Der Mann heißt Jean Bricmont und war bis zum Erscheinungsjahr des vorliegenden Buches als Hochschullehrer in seinem Fach mit den dazu gehörenden Publikationen bekannt. Irgendwie reichte das ihm, der sich immer für Politik interessiert hatte, nicht mehr aus und er setzte sich mit einer Entwicklung auseinander, die Europa als politischen Faktor lähmt und zu einem postkolonialen Gebilde gemacht hat – ohne Perspektive in einer sich verändernden Welt.
Unter dem nichts im Ungewissen lassenden Titel “Humanitarian Imperialism. Using Human Rights to Sell War” (Übers.: Humanitärer Imperialismus: Menschenrechte nutzen, um Krieg zu verkaufen) landete er im Jahr 2005 einen Coup, der noch Folgen haben wird.
Wie der Titel es bereits ankündigt, nimmt Bricmont kein Blatt vor den Mund und benennt das Problem beim Namen. Benannte Kohorten, von den Pazifisten über die Linken bis hin zu den Intellektuellen als amorphe Masse sind alle der Kriegspropaganda auf den Leim gegangen. Der Clou, den die Befürworter des Neokolonialismus und des Imperialismus landeten, ist die Bezugnahme auf die Menschenrechte. Und zwar die der im Jahr 1948 von den Vereinten Nationen angenommenen (1).
Eine Frage an die Intellektuellen
Es handelt sich dabei um 30 Artikel, die in der Begründung und Legitimierung von imperialen Interventionen vor allem durch die USA sehr selektiv angewendet werden.
Während die Presse- und Meinungsfreiheit immer im Zentrum der Kriegsbegründung stehen, fallen alle anderen zumeist unter den Tisch. Gute Bezahlung, soziale Absicherung, Wohnen, medizinische Versorgung und Bildung, alles ebenso fixierte Rechte, spielen keine Rolle und werden sogar als Wunschliste für den Weihnachtsmann diskreditiert.
Dies alles hindert die Intelligentsia im saturierten Westen nicht daran, sich mit echten oder inszenierten Oppositionen in sturmfreien Ländern solidarisch zu erklären. Virtuell, versteht sich. Denn Bricmont stellt gleich die alles entscheidende Frage: Hat das Bekenntnis der hiesigen Intellektuellen zu den rudimentär interpretierten Menschenrechten irgendeinen Einfluss auf das, was dann bei der Realisierung durch das Militär in den betroffenen Ländern geschieht? Die Antwort ist eindeutig: Nein. Hatte es noch nie.
Schluss mit dem guten Gewissen
Das Buch ist eine reiche Quelle für viele Absurditäten in der Begründung von Kriegen und deren Nachsorge. Denn, sind die schlimmen Diktatoren aus der Dritten Welt erst einmal liquidiert, kommen Weltbank und Internationaler Währungsfonds und zwingen die Befreiten zu Privatisierungsprogrammen, die vor allem eines zur Folge haben: Die systematische Gefährdung essenzieller Menschenrechte wie Lohn, Wohnung, Krankenhaus und Schule.
Um Bricmonts Quellen zu verifizieren, muss man sich nur die Folgen anschauen. In Afghanistan, wo es bei der Begründung des Krieges propagandistisch um das Recht junger Frauen ging, die Schule besuchen zu dürfen. Spricht noch irgendjemand davon? Hat sich nach eineinhalb Jahrzehnten der militärischen Intervention irgendetwas geändert? Oder hat der unter bewusst lancierten falschen Annahmen statt gefundene Irak-Krieg dem Land die Demokratie gebracht? Funktionieren die Institutionen des Landes wieder?
Es spricht für das Buch Jean Bricmonts, dass er in ihm seine Thesen prägnant und präzise formuliert und dann stets quellengesicherte Belege vorlegt. Die Konsequenz, die auf dem Silbertablett präsentiert wird, ist einfach wie gefährlich. Hört auf, Kriege zu legitimieren und fangt an, die Menschenrechte in Gänze als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit euren eigenen Regierungen zu nehmen. Das hat Konsequenzen. Und mit dem guten Gewissen ist es dann vorbei.
Informationen zum Buch
Humanitarian Imperialism: Using Human Rights to Sell War
Autor: Jean Bricmont
Genre: Sachbuch
Sprache: Französisch (Übersetzung ins Englische Diana Johnstone)
Seiten: 176
Veröffentlichung: 2005 (Englische Ausgabe 2007)
Verlag: Monthly Review Press
ISBN-13: 9781583671474
Quellen und Anmerkungen
(1) Generalversammlung der Vereinten Nationen (183. Plenarsitzung vom 10.12.1948): Resolution der Generalversammlung 217 A (III). Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Auf https://www.un.org/Depts/german/menschenrechte/aemr.pdf (abgerufen am 15.10.2020).
Symbolfoto: Ali Marel (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.