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Analyse: Wien nach der Wahl

Wien hat zwar gewählt, aber der Demokratie hilft es wenig. Die Wahlbeteiligung ging auf rund 65,3 % zurück. Die Partei der Nichtwähler wurde stärkste Kraft. Außerdem durften rund 30 % der in Wien lebenden Menschen nicht wählen. Der Demokratie droht die Delegitimation. Eine Nachbetrachtung von Hermann G. Böhm.

Hermann G. Böhm analysiert in seinem Podcast “Darüber sollten wird reden” den Ausgang der Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahl in Wien. Seine Schlussfolgerungen lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Der Zustand der Demokratie ist bedenklich.

Nichtwähler siegen in Wien

Obgleich sich mit Ausnahme der FPÖ, die einen Megaabsturz erlebte, und HC Strache, der es mit seinem “Team” noch nicht einmal in die Nähe der 5-Prozent-Hürde schaffte, vor allem die etablierten Parteien irgendwie als Sieger fühlen, steht die Herrschaftsform der repräsentativen Demokratie vor der Delegitimation. Denn die überwältigende Mehrheit der Wienerinnen und Wiener ist gar nicht am politischen Gestaltungsprozess beteiligt.

Rund 30 % der in Wien lebenden Menschen im wahlfähigen Alter dürfen nicht wählen, weil sie keine österreichischen Staatsbürger sind. Etwa 8,5 % der abgegebenen Stimmen haben keine politische Wirkung, weil die von ihnen gewählten Parteien die 5-Prozent-Hürde verpassten. Und zudem sank die Wahlbeteiligung von vormals 74,75 % in 2015 auf rund 65,3 % dramatisch. Die Partei der Nichtwähler ist die stärkste Kraft in Wien.


Nachbetrachtung zur Wien-Wahl 2020 (Quelle: Idealism Prevails/YouTube)

Detailliert setzt sich der Kommunikationswissenschaftler mit den Wahlergebnissen von SPÖ, ÖVP, den Grünen, NEOS, FPÖ, Team HC Strache, LINKS, Bier und SÖZ auseinander und analysiert, welche Rolle die Spitzenkandidaten Michael Ludwig (SPÖ), Gernot Blümel (ÖVP), Birgit Hebein (Grüne), Christoph Wiederkehr (NEOS), Dominik Nepp (FPÖ) und HC Strache (Team HC Strache) gespielt haben. Und auch die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ORF wird hinterfragt (1).


Übersicht zur Wien-Wahl 2020

Einwohnerzahl: 1.911.191 (Stand: 1. Januar 2020)

Wahlberechtigte: 1.362.795 (Stand: 24. Juli 2020)

Wahlbeteiligung: rund 65,3 %


Parteien und Stimmanteile

SPÖ | 41,62 Prozent | 301.967 Stimmen

ÖVP | 20,43 Prozent | 148.238 Stimmen

GRÜNE | 14,80 Prozent | 107.397 Stimmen

NEOS | 7,47 Prozent | 54.173 Stimmen

FPÖ | 7,11 Prozent | 51.603 Stimmen

HC Strache | 3,27 Prozent | 23.688 Stimmen

LINKS | 2,06 Prozent | 14.919 Stimmen

BIER | 1,80 Prozent | 13.095 Stimmen

SÖZ | 1,20 Prozent | 8.742 Stimmen

WIFF | 0,17 Prozent | 1.201 Stimmen

PRO | 0,05 Prozent | 376 Stimmen

VOLT | 0,01 Prozent | 102 Stimmen


Totschweigen und Tittytainment

Da Medien Wirtschaftsunternehmen sind, orientiert sich selbst im politischen Bereich die redaktionelle Themenauswahl nicht nur am Nachrichtenwert, sondern zunehmend am Unterhaltungfaktor. Tittytainment, die seichteste Form der Unterhaltung, kann im Politischen also den besten Inhalt schlagen. Bei diesem Trauerspiel hatte die BIER Partei, die inhaltlich für das Nationalgetränk Bier steht, selbst beim ORF bessere Karten als zum Beispiel LINKS mit radikalen Forderungen wie gratis Kinderkrippen, Einführung einer City Card oder der massiven Erhöhung der Mindestpension.

Die Berichterstattung des ORF am Wahlsonntag und in allen relevanten Wahlsendungen am Montag nach der Wahl fiel vor allem dadurch auf, dass von den drei Kleinparteien mit den besten Aussichten zwei, nämlich LINKS und Soziales Österreich der Zukunft (SÖZ) totgeschwiegen wurden. Die auf Satire gebürstete Partei BIER kam im Gegensatz dazu in den Genuss eigener redaktioneller Beiträge.

Der ORF hat mit dieser offensichtlichen Benachteiligung von LINKS und SÖZ selbst Wasser auf die Mühlen seiner Kritiker gegossen. Denn gerade in diesen Zeiten, wo die Legitimation der repräsentativen Demokratie auf der Kippe zu stehen scheint, wird die Berichterstattung der reichweitenstarken Mainstreammedien auch hinsichtlich ihrer (politischen) Neutralität oder eben Nichtneutralität von immer mehr Menschen hinterfragt.

Die Wahl in Wien im Detail

Im Wiener Gemeinderat sind insgesamt 100 Sitze(absolute Mehrheit 51 Sitze) zu vergeben. Das mehrheitsfördernde Wahlrecht in Wien hat dazu geführt, dass die SPÖ mit einem Stimmanteil von 41,62 Prozent 46 Mandate erhält. Die Wiener ÖVP hat im Vergleich zur Landtagswahl 2015 in absoluten Zahlen über 70.000 Stimmen gewonnen: 20,43 % (22 Mandate) bedeutet für die ÖVP ein Plus von über 11 % gegenüber 2015 und damit das beste Ergebnis in Wien seit über 30 Jahren.

Die Grünen erreichten oberflächlich betrachtet mit 14,8 % (16 Mandate) ihr bestes Ergebnis auf Wiener Landesebene, blieben jedoch deutlich hinter ihren Ergebnissen bei der EU-Wahl 2019 und der Nationalratswahl 2019, bei denen die sie jeweils über 20 % erreichen, zurück. Auf rund 18,5 % kamen die Grünen in Wien auf Bezirksebene – ein starkes Indiz, dass Grünen-Chefin Birgit Hebein kein “Vote-Getter” war.

Vernichtend geschlagen wurde Heinz-Christian Strache. Der frühere FPÖ-Obmann legte mit dem Team HC Strache eine Bruchlandung hin und verfehlte mit lediglich 3,27 % die 5-Prozent-Hürde deutlich.

Die NEOS sind mit 7,47 % überraschend vor der rechtspopulistischen FPÖ gelandet; die Freiheitliche Partei Österreichs erlebte einen katastrophalen Absturz. Von über 30 %, die man bei der Wahl 2015 holte, ging es runter auf 7, 11 %. Sowohl die NEOS als auch die FPÖ werden mit jeweils 8 Mandataren im Wiener Gemeinderat vertreten sein.

Einen Achtungserfolg konnte die Partei LINKS mit 2,06 % verbuchen. Die BIER-Partei kam auf ebenso respektable 1,80 % der gültigen Stimmen und Soziales Österreich der Zukunft erreichte immerhin 1,20 %. Alle drei Parteien blieben damit aber deutlich unter der 5-Prozent-Hürde, die übersprungen werden muss, um in den Gemeinderat einzuziehen.

Der Abstieg der FPÖ und der Fall von HC Strache

Für das freiheitliche (“dritte”) Lager bedeutet das Wahlergebnis vom 11. Oktober 2020 – wenn die Stimmen von FPÖ und HC Strache addiert werden –, dass mit gerade einmal 10 % ein historisches Waterloo erlitten wurde.

Von vielen Analysten unbemerkt hatte der Abstieg der FPÖ auf Bundesebene aber bereits 2016 begonnen. Trotz eines Vorsprungs von weit über 10 % im 1. Wahlgang war es Norbert Hofer bei der Bundespräsidentenwahl nicht gelungen den ehemaligen Parteichef der Grünen, Alexander van der Bellen, in den Stichwahlen zu schlagen.

Mit der Iziza-Affäre und der Veröffentlichung des sogenannten Ibiza-Videos am 17. Mai 2019 begann das “freiheitliche Drama” um den damaligen Parteichef Heinz-Christian Strache. Es folgte ein beispielloser Abstieg der Partei, massiv beschleunigt durch die Spesenaffäre von HC Strache. Der soll sich Privatausgaben in sechstelliger Höhe von der Partei finanziert haben lassen.

Gerade für die FPÖ, die seit 1986 – damals noch unter Jörg Haider – durchgehend gegen Spesenritter, Bonzen und Privilegien-Ritter wetterte, führten diese Skandale für die Wiener FPÖ zum absoluten wahlpolitischen Supergau.

Die Partei hat an diesem Punkt einen massiven Verrat an ihren Wählern begangen. Und ganz besonders ihr Ex-Parteichef Heinz-Christian Strache, der offenbar nicht verstehen will, dass er endlich aus der Politik aussteigen muss, wenn er sich ein Minimum an Restwürde erhalten möchte.

Wenn man nun aber von Strache hört, dass das Team HC Strache 2021 bei der nächsten Landtagswahl in Oberösterreich antreten will, kann man nur mehr den Kopf schütteln…

Der rechte Rand ohne Rückhalt

Die Wiener FPÖ, die massiv von Burschenschaftern dominiert wird, braucht allerdings nicht mit dem Finger auf HC Strache zu zeigen. Denn auch nach dem Ausschluss von Strache setzte die Wiener FPÖ im Wahlkampf auf Hetze und rückte sich dadurch selbst komplett an den rechten Rand. Das wurde vom Wähler aber abgestraft, da mit der nach rechts gerückten ÖVP eine rechtspopulistische Alternative und damit eine “attraktive” Option für ehemals freiheitliche Wähler bestanden hat.

Manchen linksliberalen und grün affinen Journalisten, die seit Jahrzehnten alle Wähler der FPÖ ins rechtsextreme oder gar nationalsozialistische Eck stellen, sei in ihr Stammbruch geschrieben, dass, hätte die These bestand, dass freiheitliche Wähler rechtes Gedankengut grundsätzlich gutheißen würden, die Wiener FPÖ bei dieser Landtagswahl viel besser hätte abschneiden müssen.

Sprich: Spätestens jetzt sollten diese Medienakteure begreifen, dass die überwältigende Mehrheit der FPÖ-Wähler eben nicht rechtsextrem ist, sondern massiv enttäuscht von den politischen Eliten und nun eben auch enttäuscht von der FPÖ. Dementsprechend blieben laut Wählerstromanalysen über 100.000 Wahlberechtigte, die 2015 ihre Stimme noch den Freiheitlichen gaben, der Landtagswahl 2020 fern.

Was macht die SPÖ und wohin bewegt sich das linke Spektrum?

Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt die Frage, welche Koalition die Wiener Landes-SPÖ nun schmieden wird. Wiens SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig hat sich mit seinem Wahlerfolg endgültig aus dem Schatten seines Langzeitvorgängers Michael Häupl gelöst. Er steht nun aber vor einer echten Bewährungsprobe in Bezug auf die Bildung der kommenden Landesregierung.

Allein schon aus taktischen Gründen ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich die Wiener SPÖ für die NEOS als Partner entscheiden wird, weil dieser für sie am leichtesten zu händeln ist. Denn viel Streit und Ärger in einer Koalition kann die Wiener SPÖ nicht gebrauchen.

Wie auch den anderen SPÖ-Landesparteien hängt die katastrophal schwache Bundes-SPÖ unter Pamela Rendi-Wagner wie ein Mühlstein am politischen Hals.

Auch die Lösung der wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise, die sich in Wien nicht mit Gutscheinpolitik wegzaubern lassen, ist eine Mammutaufgabe. Und es ist außerdem zu bedenken, dass die Wiener SPÖ trotz des Zugewinnes von 2 % im Vergleich zum Wahlergebnis 2015 in absoluten Zahlen einige Tausend Stimmen verloren hat. Es besteht also für die Genossen keinerlei Grund, sich zurückzulehnen…

Die Kleinparteien im linken Spektrum, allen voran die Partei “Wandel“, die nur auf Bezirksebene im Stadtteil Neubau kandidiert hat und dort gerade einmal 2 % – und damit keinen einzigen Bezirksrat – erreichte, stehen vor einer Richtungsentscheidung: Alleine weiterwursteln oder die Kräfte bündeln.

Was müsste passieren?

Politik und Medien sollten von der auf Personen zentrierten Politikvermittlung abgehen: Die Probleme in Wien sind komplex und die Reduktion politischer Inhalte auf Personen(kult) hilft sachlich niemandem. Mit dem Clickbait Journalismus rund um Egomanen wie HC Strache muss Schluss sein. Über seriöse neue politische Kräfte wie SÖZ und LINKS muss dagegen mehr und sollte neutral berichtet werden, damit die Wähler über die Programme aller relevanten Parteien informiert sind.

Die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung deutlich auf 65,27 % gefallen und die Partei der Nichtwähler stärkste Partei in Wien ist, muss allen Parteien zu denken geben. Denn es droht die Delegitimation der repräsentativen Demokratie und damit der Parteien selbst.

Addiert man die etwa 30 % Menschen, die in Wien leben, aber weder auf Bezirksebene noch auf Gemeinderatsebene wählen dürfen, zu den Nichtwählern, wird klar, dass die überwältigende Mehrheit der Wienerinnen und Wiener nicht am Wahlprozess und der politischen Gestaltung der Metropolen beteiligt ist. Ignoriert die etablierte Parteipolitik diesen Fakt und bemüht sich nicht darum, diese Masse zu begeistern, zu gewinnen und einzubinden ins Politische, sollte sich niemand wundern, wenn der letzte Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, aus den Fugen fliegt. Und was durch die Delegitimation von Herrschaft alles ausgelöst werden kann, das mag man sich lieber nicht ausmalen …


Quellen und Anmerkungen

(1) Der Österreichische Rundfunk (ORF), der seinen Hauptsitz in Wien hat, ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk Österreichs. Der ORF, der seit August 1955 sendet und als Stiftung des öffentlichen Rechts organisiert ist, hat in jedem der neun Bundesländer ein Landesstudio. Außerdem gibt es ein Studio in Bozen (Südtirol). Der ORF produziert vier Fernsehprogramme, drei bundesweite und neun regionale Radioprogramme. Damit ist der ORF, der an den Österreichischen Lotterien beteiligt und auch der größte Genossenschafter der Austria Presse Agentur ist, der größte Medienanbieter Österreichs. Mehr Informationen auf https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreichischer_Rundfunk (abgerufen am 18.10.2020).


Foto und Video: Paweł Czerwiński (Unsplash.com) und Idealism Prevails

Kommunikationswissenschafter bei Idealism Prevails | Webseite

Hermann Georg Böhm kommt aus Österreich und ist promovierter Kommunikationswissenschafter mit dem Schwerpunkt 'Politische Kommunikation'. Er lebt und arbeitet in Wien, engagiert sich seit vielen Jahren in den unterschiedlichsten Projekten für mehr Mitmenschlichkeit, soziale Gerechtigkeit und den Erhalt und Ausbau bürgerlicher Freiheiten. Für Gesellschaft und Politik interessiert er sich seit über 35 Jahren. 2016 gründete Hermann Böhm die unabhängige Medienplattform 'Idealism Prevails', dessen Chefredakteur er ist. Als Podcaster wirft er in den Formaten 'Darüber sollten wir reden' und 'Reiner Wein' den kritischen Blick aufs Ganze und nimmt die Politik unter die Lupe. Er analysiert internationale Entwicklungen, hinterfragt geopolitische Entscheidungen und diskutiert die Themen, die alle angehen.

Von Hermann Georg Böhm

Hermann Georg Böhm kommt aus Österreich und ist promovierter Kommunikationswissenschafter mit dem Schwerpunkt 'Politische Kommunikation'. Er lebt und arbeitet in Wien, engagiert sich seit vielen Jahren in den unterschiedlichsten Projekten für mehr Mitmenschlichkeit, soziale Gerechtigkeit und den Erhalt und Ausbau bürgerlicher Freiheiten. Für Gesellschaft und Politik interessiert er sich seit über 35 Jahren. 2016 gründete Hermann Böhm die unabhängige Medienplattform 'Idealism Prevails', dessen Chefredakteur er ist. Als Podcaster wirft er in den Formaten 'Darüber sollten wir reden' und 'Reiner Wein' den kritischen Blick aufs Ganze und nimmt die Politik unter die Lupe. Er analysiert internationale Entwicklungen, hinterfragt geopolitische Entscheidungen und diskutiert die Themen, die alle angehen.

Eine Antwort auf „Analyse: Wien nach der Wahl“

Ich erinnere mich noch an meinen ersten Leserbrief an die damals noch linke TAZ: “Warum veröffentlicht ihr nicht die richigen Prozentzahlen?” z.B. SPÖ: 41,62 % * 0,653 (Wahlbeteiligung) = 27,2 %. Unter Berücksichtigung der Menschen, die gar nicht wählen durften, wäre das Ergebnis noch verheerender.

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