Jenseits der politischen Programmatik existiert das Feld der täglichen Routine. Einerseits liegt ein Bekenntnis zu strategischen Zielen vor, andererseits sind die heute konkreten praktischen Zustände so beschaffen, dass sie sofortiges Handeln erfordern. Dabei entsteht für viele ein Dilemma, das hinreichend bekannt ist.
Funktionäre und Apparatschiks
Diejenigen, die sich auf die Strategie berufen und die praktischen Erfordernisse des Alltags ausblenden, ignorieren und verdrängen, scheitern sehr schnell und ihnen haftet das Attribut des weltfremden Träumers an. Andere wiederum, die sich selbst gerne als Pragmatiker sehen, stürzen sich in den Alltag, lösen auch so manches, aber sie verlieren den Blick für die Perspektive. Sie sind schnell als Funktionäre, Apparatschiks oder als Amöben verurteilt, weil sie nicht über das Heute hinausdenken.
Die Entscheidung, wie sich Organisationen, Parteien und Staaten vor allem in Krisen verhalten sollen, ist zweifelsohne eine, die bei der Führung liegt und dort getroffen wird. Die Krise kommt bei dieser Betrachtung ins Spiel, weil sie sich ausgezeichnet dazu eignet, die beschriebenen Verhaltensweisen auf dem hell erleuchteten Seziertisch betrachten zu können.
Dann, wenn vieles ins Wanken gerät, zeigt sich sofort, wie die Führung die Probleme zu lösen gedenkt. Beide Varianten sind zu beobachten, wobei die des Managements der täglich anfallenden Probleme in Krisen besonderen Druck ausübt. Ihnen kann sich niemand entziehen, auch wenn in dem Bereich der politischen Parteien ein Refugium für die synthetisch reinen Strategen immer wieder anzutreffen ist.
Weiter, aber anders!
Was erforderlich zu sein scheint, ist das tatsächliche Krisenmanagement, das sich den alltäglichen Problemen stellt und dabei die Perspektive nicht aus den Augen verliert.
Eine Position, die das Problem besonders gut charakterisiert, ist die gegenwärtige Position einiger mächtiger Automobilproduzenten, die darauf pochen, sich jetzt um die Arbeitsplätze kümmern zu müssen und staatlich subventionierte Anreize für den Kauf von bekannten Modellen zu schaffen, ohne die verkehrspolitische Zukunft und damit die Relevanz des Geforderten zu überprüfen. Da zeigt sich mit einem Pinselstrich, dass das Management der konkreten Krise mit einer Zementierung der tradierten Verhältnisse einhergeht.
Lassen Sie unterschiedliche, Ihnen bekannte Organisationen Revue passieren und beobachten Sie, was passiert! Herrscht das “Weiter so!” oder hören Sie doch den Slogan “Weiter, aber anders!”?
Um was es geht? Anspruch!
Handelt es sich, so wie beschrieben, um eine Aporie, eine Unauflöslichkeit, oder existieren doch andere Herangehensweisen, derer sich Führung bemächtigen kann und die genau das realisieren, was immer in Situationen von Krisen so gerne zitiert wird? Die Krise als Chance! (1)
Die Antwort ist eindeutig und ein klares Ja. Oft stehen die weitsichtigen Vertreter des Krisenmanagements im Schatten der Systembewahrer, die unter großem Getöse ihr Beharren auf dem Tradierten zu einer Schicksalsfrage für alle machen. Doch während all diesen Lamentos sind sie und ihre Organisationen dabei, die Chance zu nutzen, alles auf den Prüfstand zu stellen, die wahren eigenen Stärken zu identifizieren und die redundanten und mit weniger Kompetenz ausgeführten Tätigkeiten zu beenden. Und es geht um die Analyse dessen, was die Zukunft an Erfordernissen bringt und wie man sich dem stellen kann.
Es ist immer wieder gut, sich mit den Menschen zu unterhalten, die in der jeweiligen Verantwortung stehen. Sie bieten nicht nur ein authentisches Bild des Realen, sie sind in der Regel auch in der Lage, das, was sie machen, mit einfachen Worten zu erklären. Einer dieser Menschen brachte es auf den Punkt, und es eignet sich für viele von der Zweckbestimmung her unterschiedliche Organisationen: Wir leben den Anspruch und halten den Laden am Laufen!
Quellen und Anmerkungen
(1) Der Briff Krise beschreibt im Allgemeinen einen Wendepunkt (oder auch Höhepunkt) einer Konfliktentwicklung. In der Regel wird der Wendepunkt als gefährlich beschrieben, da er innerhalb eines natürlichen oder sozialen Systems begleitet wird von (massiven) problematischen Funktionsstörungen, die der Krise über einen bestimmten Zeitraum vorausgingen. Die Entscheidungssituation, die mit dem Wendepunkt verknüpft ist, bietet in der Regel die Chance zur Lösung der Konflikte als auch die Möglichkeit zu deren Verschärfung. So ist zumindest der theoretische Anspruch. Dass es sich tatsächlich um einen Wendepunkt gehandelt hat, kann meistens jedoch erst konstatiert werden, nachdem die Krise beendet (bzw. abgewendet) wurde. Nimmt die Entwicklung der Krise einen dauerhaft negativen Verlauf, so führt sie in den Niedergang, entwickelt sich also zur Katastrophe.
Foto: Jeremy Lishner (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.