Wenn nach einem Indiz für die Unglaubwürdigkeit von System und Personal gesucht werden soll, dann liegt dieses jetzt vor. Es ist der unisono vom Bundesinnenminister wie vom neuen Ver.di-Vorsitzenden gefeierte Tarifabschluss für den Öffentlichen Dienst (1).
Betrachtet man tatsächliche Laufzeit und die daraus abzuleitenden realen Erhöhungen für all jene Beschäftigten, die während Corona-Ausbreitung und dem verordneten Lockdown den Laden am laufen gehalten haben, dann kann kalt darauf geantwortet werden, dass die Summen bereits allein durch die Verteuerung der Lebensmittel vertilgt sind. Die Chance, nach dieser tiefsitzenden Erfahrung, die Pflegeberufe aufzuwerten, wurde schlichtweg vertan.
Denken in anderen Dimensionen
Besonders seit Ausbruch der Krise wurde immer wieder darüber spekuliert, inwieweit eine Systemabhängigkeit von der Fähigkeit vorliegt, diese Krise besser managen zu können. Der Blick geht dabei nach China, wo schnell und dirigistisch drastische Maßnahmen ergriffen werden konnten, um die Epidemie eindämmen und bekämpfen zu können.
Immer wieder ertönen die Kassandrarufe, das Ende der Demokratie deute sich an, weil das hier alles viel länger dauere, schlechte Entscheidungen getroffen würden. So kann das gesehen werden, muss es aber nicht.
Was die chinesische Staatsführung besonders auszeichnet, ist das Denken in ganz anderen Dimensionen, das heißt, in besonderem Maße eine strategische Ausrichtung vorliegt und, das hatte man im selbstgefälligen Westen gar nicht vermutet, eine große Lernfähigkeit zu beobachten ist.
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Aufruf: Das Land, in dem ich leben möchte
Wie schon Max Herrmann-Neiße Anfang der 1930er-Jahre stellen sich die Initiatoren der Plattform Futur II in diesen Zeiten der Unklarheiten und Ungewissheiten die Frage, wie die Zukunft gestaltet werden kann – und Sie alle sind eingeladen, sich einzubringen, um Antworten zu finden.
Beides, strategisches Denken wie Lernfähigkeit, sind nicht unbedingt einem bestimmten, historisch konkreten politischen System verpflichtet. Allerdings ist beides in den Demokratien des Westens eher eine Seltenheit.
Vielleicht liegt es nicht am System, sondern ganz einfach am Personal. Die Sozialisation der politischen Klassen im Westen ist nahezu analog, sie studieren dasselbe und sie durchlaufen vor der richtigen Aktivität noch eine Beratungsgesellschaft – und dann sind sie komplett, quasi als Serie X5-A neoliberalistischer Präparierung. Was dabei herauskommt, ist eine gleichförmige, flache Rhetorik und das Herunterbeten neoliberaler Glaubenssätze. Sollte die Rhetorik abweichen, sei empfohlen, sie mit den tatsächlichen Entscheidungen abzugleichen.
Der Weg zum Tarifabschluss als Bankrotterklärung
Die These, die sich mit dem Vergleich zwischen China und dem Westen ableitet, ist die, dass die Qualität des politischen Personals hierzulande nicht mehr den großen Krisen, mit denen eine multipolare, epidemisch gefährdete und globalisierte Welt daherkommt, mithalten kann. Da reicht es nicht, apologetisch die eigenen Entscheidungen zu verteidigen und jede andere Meinung dem Drecksturm eines digitalisierten Pöbels auszusetzen. Das ist keine demokratische Tugend, sondern eine Bankrotterklärung.
Diese These wird durch das Verhalten vor, während und nach den Tarifverhandlungen untermauert. Bei Ausbruch und während der Krise wurden die in den Krisengebieten arbeitenden Menschen über den Klee gelobt, als es um einigermaßen Lohn für die chronisch unterbezahlten Lohngruppen ging und sich die Betroffenen zu Warnstreiks (2) entschlossen, wurden sie als meuchlerische Erpresser diskreditiert. Und jetzt werden sie mit irrelevanten Petitessen abgespeist.
Gleicht man das mit den Rettungspaketen für verzockte Banken ab oder mit den Subventionen (3, 4, 5) für bestimmte Branchen im Rahmen der Corona-Krise, dann zeigt sich, wohin der Hase weiter läuft. Das, was viele gehofft hatten, nämlich eine Wende im Denken, erweist sich als Illusion. Es geht so weiter wie bisher, zumindest mit diesem Personal.
Hat irgendjemand eine Stimme gehört aus der Partei des Bundesgesundheitsministers, aus der Sozialdemokratie, von den Grünen, die sich für bessere Löhne zum Beispiel in der Pflege während der Tarifverhandlungen ausgesprochen hätte? Eben!
Quellen und Anmerkungen
(1) Volksfreund (26.10.2020): Was der neue Tarifabschluss für Pflegekräfte bedeutet. Auf https://www.volksfreund.de/magazin/beruf/was-der-neue-tarifabschluss-fuer-pflegekraefte-bedeutet_aid-54258269 (abgerufen am 27.10.2020).
(2) Aktion gegen Arbeitsunrecht (23.10.2020): Gesundheit statt Profit: Warnstreiks im öffentlichen Dienst. Auf https://arbeitsunrecht.de/gesundheit-statt-profit-warnstreiks-im-oeffentlichen-dienst/ (abgerufen am 27.10.2020).
(3) Kontext Wochenzeitung (7.10.2020): Geld umsonst – für Reiche. Auf https://www.kontextwochenzeitung.de/wirtschaft/497/geld-umsonst-fuer-reiche-7036.html (abgerufen am 27.10.2020).
(4) Telepolis (27.10.2020): Vergleich der Krisen 2020 vs. 2008 – Der durch die Pandemie ausgelöste Krisenschub ist trotz gigantischer Verschuldung keineswegs ausgestanden. Auf https://www.heise.de/tp/features/Vergleich-der-Krisen-2020-vs-2008-4934054.html (abgerufen am 27.10.2020).
(5) Reiner Wein Podcast (24.7.2020): In der Krise: Geld aus dem Nichts. Auf https://www.reiner-wein.org/geld-aus-dem-nichts/ (abgerufen am 27.10.2020).
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.