Ich hatte einen Traum. Ein Traum, der noch lange nachwirken wird, das spüre ich. Ich will ihn nicht deuten, ich will mir auch keine Meinung über ihn bilden. Er kam sozusagen über mich, quasi als Darreichung aus der Zukunft. Dabei spielte ich in ihm gar keine Rolle. Ich nicht und andere Menschen auch nicht. Er war komplett menschenfrei, was merkwürdig ist, wenn man bedenkt, dass einem für gewöhnlich Legionen von Menschen begegnen, wenn man träumt.
Man findet sich beispielsweise in einer Stadt wieder, an Kreuzungen, in Fußgängerzonen, in Restaurants. Die Menschen haben klar erkennbare Gesichter – wie im richtigen Leben. Sie benehmen sich wie im richtigen Leben, jeder auf seine Art.
Wo kommen sie her? Es sind doch keine Erinnerungen, die uns dort präsentiert werden. Wir sind diesen Wesen noch nie zuvor begegnet. Oder doch? Nein, sind wir nicht. Nicht in diesem Leben. Also: Wo kommen sie her, die Traumfiguren in ihren Autos, im Kaufhaus, am Würstchenstand, die Paare und Passanten, die Gehetzten und Lachenden, die Bettler und die feinen Leute mit den Sektgläsern in der Hand, die einem sogar manchmal zuprosten? Keine Ahnung, aber jedes ihrer Gesichter ist bis ins Detail ausgeprägt.
Der Feinstoff, der die Welt im Innersten zusammen hält …
Die Traumwelt präsentiert sich so vielschichtig und real, wie wir es auch im Wachzustand erleben. Aber die Frage bleibt: Wo kommen all die Menschen her, die als Statisten durch unsere Träume geistern? Handelt es sich um Wesen, die vor uns hier zu Gast waren und nun anstehen, um wieder geboren zu werden, damit sie ihre Lektion zu Ende lernen?
Eine Lektion, die unterbrochen wurde durch Kriege und Krankheiten, durch Mord und Selbstmord oder weil einfach nur die Herzen im Überlebenskampf stumpf und empathielos geworden waren. Herzen, die den eigentlichen Sinn des Lebens nicht mehr begreifen und greifen konnten. Und dieser Sinn, daran glaube ich schon mein ganzes Leben lang, besteht darin, das eigene Ego zu zertrümmern, eins zu werden mit der Schöpfung und zu verstehen, was Liebe meint. LIEBE – der Feinstoff, der die Welt im Innersten zusammen hält.
Nur wer das verstanden hat, wird davon befreit, sich erneut in diesen gigantischen Wartesaal zu begeben, aus dem sich meine Traumfiguren rekrutieren. Das wäre eine Erklärung. Muss aber nicht so sein.
Träume erzählen, Schönheit erzählen …
Und jetzt wird es interessant. Ist die Tatsache, dass ich einen Traum träumen durfte, in dem Menschen nicht mehr vorkommen, nun das Ergebnis einer allgemeinen und allumfassenden Bewusstwerdung unserer Spezies oder wurden wir einfach nur von diesem Planeten verbannt, sozusagen in die Tonne getreten? Als gescheitertes Experiment. Könnte aber auch sein, dass wir nicht mehr gebraucht wurden, weil wir unsere Aufgabe, die uns aufgetragen wurde, pflichtbewusst erfüllt hatten.
Diese Aufgabe hieß dann wohl: Haut das filigrane Netzwerk auf der Erde in tausend Stücke, damit ich mir neue Bahnen suchen kann, denn ich, die Evolution, spiele und experimentiere gern. Man weiß es nicht. Wie auch immer. Es ist müßig, darüber zu spekulieren. Möge sich jeder seine eigene Vorstellung von meinem Traum machen. Aber dafür muss ich ihn zunächst erzählen. Also, hier ist er:
Fahrt durch ein verlassenes Dorf an eingestürzten Mauern vorbei. Aus den verlassenen Häusern wuchern Pflanzen. In einer verrotteten Scheune steht ein Traktor auf drei Rädern. Auf dem Schalensitz ein Vogelnest. Das ganze wirkt wie eine Ausstellung in einem Freilichtmuseum, die dem unverfälschten Leben ebenso gewidmet ist wie dem gnadenlosen Tod. Die verreckten Störche in ihren Nestern, deren lange Hälse schlaff vom First baumeln, während ihre dünnen, roten Beine steif in den Himmel ragen, kontrastieren mit den grazilen Rehen, die in den verwilderten Gärten stoisch wiederkäuen. Schnitt.
Die Straße, in der ich wohne. Wohnte, müsste ich angesichts dieser Bilder sagen. Die Straßenbäume haben sich nach allen Seiten Luft verschafft, sie haben sich sozusagen erhoben und die asphaltierte Fahrbahndecke gesprengt, die so lange auf ihren Wurzeln lastete. Die Mehrzahl der Häuser ist ohne intakte Fenster und ohne Türen, zerschlissene Vorhänge flattern im Wind, als würden sie dir winken. Blick in Räume voller Haushaltsschrott, voller offener Schränke und zerbrochener Spiegel, am Boden liegende Arzneiflaschen und Magazine, die sich in rostigen Bettgestellen verheddern. Zwei Affen hangeln sich an den Rissen in der Fassade eines Hauses von Stockwerk zu Stockwerk. Schnitt.
Großstadt. Könnte Moskau sein, New York oder Singapur. Ein gigantischer Scherbenhaufen. Das Einzige, was sich noch regt, sind zwei Buchstaben einer ehemaligen Werbebotschaft, die vom Dach eines Hochhauses hängen. Es sind die Buchstaben A und Z, die in unregelmäßigen Intervallen gelbe und blaue Funken versprühen. Schnitt.
Hunderte Rinder stolpern aus einem Schlachthof ins Freie, die Augen immer noch geweitet vor Angst. Schnitt.
Die Pyramiden von Gizeh fallen in sich zusammen. Der Eiffelturm kann sich dem Angriff der Kletterpflanzen nicht länger erwehren und neigt das Haupt. Schnitt.
Es öffnet sich ein roter Samtvorhang. Ein Zug unterschiedlichster Tiere marschiert von rechts nach links über die Bühne. Ob Ameise oder Giraffe, sie haben alle dieselbe Größe, die Größe einer Dogge etwa. Jedes Mitglied dieser Prozession trägt ein Wort mit sich. Alle Wörter hinter einander gelesen ergeben folgende Botschaft:
Der – Dichter – hat – eine – Strecke – grenzenloser – Melancholie – zu – durchschreiten, – er – kommt – sich – vor, – wie – ein – am – Sonntagnachmittag – zwischen – den – Furchen – eines – nicht – zu – Ende – gepflügten – Feldes – abgestellter – Traktor.
Es folgen sieben bunte Papageien, deren Schilder leer sind, die mir aber zuzwinkern. Ein Schneeleopard führt den zweiten Satz an und der lautet:
Nur + jemand, + der + weiß, + was + Schönheit + ist, + blickt + den + Wind, + die Bäume, + die + Sterne + oder + das + funkelnde + Wasser + eines + Flusses + mit + völliger + Hingabe + an, + und + wenn + wir + wirklich + sehen, + befinden + wir + uns + im + Zustand + der + Liebe.
Eine Hanfpflanze im Frack folgt dem Zug der Tiere, zieht den Zylinder und verbeugt sich, während ich mich klatschen höre. Ich bin der Einzige im rotbestuhlten Zuschauerraum … Die Ewigkeit gibt ein Gastspiel im Theater der Vergänglichkeit und ich darf dabei sein. Parkett, erste Reihe, Mitte.
Foto: Joshua Coleman (www.joshstyle.com; Unsplash.com)
… write without mercy!

Von hier in die Zukunft …
Der Anfang vom Ende
Ein Essay über die Verwahrlosung des Journalismus, dessen Sinn und Auftrag im Ground Zero verdampfte.
Sanierungsfall Megamaschine: Radikal anders!
Wir müssen anders denken, fordert Albert Einstein, da wir mit dem alten Denken nicht die Probleme lösen können, die wir damit verursacht haben.
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Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).
Eine Antwort auf „Träume: Nur jemand, der weiß, was Schönheit ist …“
Es sträubt sich in mir den Gedanken weiter zu verfolgen, dass der Mensch eine Aufgabe in dieser Welt hat, eine Lektion die er bewältigen muss. Dieses Gedankenspiel eigentlich, wie tief die Indoktrination seitens der Kirche Wurzeln geschlagen hat, in der der Mensch zwar ein Abbild Gottes darstellt, aber dennoch unvollkommen und mit Sünde behaftet ist.
Wer sollte sich so etwas Grausames ausdenken? Ein Gott der Liebe wohl kaum. Eher ein alter, verbitterter Mann (oder Frau), der in seiner Schöpfung das Unvollkommene erkannt hat und darüber zutiefst bestürzt ist.
Warum ist es nur so schwer, uns so zu akzeptieren die wir sind? Eine Laune der Natur, vergänglich wie alles in diesem Universum. Hören wir doch endlich auf damit Gott zu spielen, oder ihm ebenbürtig werden zu wollen. Vielleicht ist das ja die Basis allen Übels auf der Welt? Warum sollte es überhaupt einen Plan geben, den man ehrgeizig verfolgt? Um etwas Unvollständiges zu vervollkommnen, das etwas Vollkommenes erschaffen hat? Was für ein kosmischer Witz. Darüber wurde bestimmt schon vor Jahrtausenden am Lagerfeuer gelacht. Leider haben dann die Religionen obsiegt.
„Die Ewigkeit gibt ein GastSPIEL im Theater der Vergänglichkeit und ich darf dabei sein.“
Ein Traum in einem Traum… Punkt