Heute Nacht erhielt ich Post. Post von einem Freund, der aufgrund seiner Familiengeschichte immer einen sehr konzentrierten Blick auf den Balkan (1) richtet. Er schrieb mir ganz unaufgefordert, was er gar nicht recherchieren musste, denn das ist fest in seinem Gedächtnis gespeichert. Und dann zitierte er den President-elect der USA, Joe Biden:
“Das ist kein totaler Sieg. Wir hätten Bodentruppen einsetzen sollen, Belgrad erobern und eine Besatzung wie in #Japan oder #Deutschland etablieren sollen.” #USAelection2020 #JOEBIDEN2020.
Und dann führte mein Freund weiter aus: “Biden war 1972 für den Bundesstaat Delaware in den US-Senat eingezogen, hatte 1988 und 2008 vergeblich für die Präsidentschaft kandidiert und war dann nach der Wahl Barack Obamas 2008 und nochmals 2012 Vizepräsident geworden. Als Senator hatte er sich für die Zergliederung Jugoslawiens und die Bombardierung Serbiens eingesetzt und Präsident Clinton entsprechend bestärkt. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 forderte er mehr Bodentruppen in Afghanistan, 2003 stimmte er für den Irak-Krieg und 2011 propagierte er den Krieg gegen Libyen. Wiederholt forderte er ein Eingreifen in Syrien und die Absetzung Assads.”
Was was da ausgeführt wurde, ist in entsprechenden Quellen nachlesbar und wird als Faktum auch nicht von dem Akteur Joe Biden selbst geleugnet werden. Es sind Tatsachen, die dazu verhelfen, sich von dem neuen, allerdings noch nicht gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten ein realistisches Bild zu machen. Interessant ist, dass von der hiesigen so gefeierten freien Presse von diesen Tatsachen nichts oder kaum etwas zu lesen ist.
Ganz im Gegenteil, alle möglichen sogenannten und selbst ernannten Expertinnen und Experten schwadronieren von einer neuen Kommunikationskultur, vor der man mit Joe Biden stehe und dass man bereit sei, mehr Verantwortung zu übernehmen. Diese, wirft man nur einen Blick auf die Angaben meines Freundes, kann sehr schnell Kontur annehmen.
Würde – sowohl keine Spekulation – Joe Biden an seiner Haltung festhalten, dann bedeutet die Annahme von mehr Verantwortung, was man, so die Verlautbarung von Bundespräsident, Kanzlerin wie Außenminister sehr gerne täte, mehr aktive Teilhabe an kriegerischen Handlungen. Liebe freie Presse, damit das einmal klar ist, worüber wir reden! Ob für diese Position Mehrheiten in der Gesellschaft existieren und wie sie hergestellt werden sollen, ist eine andere Sache.
“Das Schweigen der Tyrannen”
Ein Weg auf der psychologischen Kriegsmobilisierung wird allerdings bereits geleistet. Das beginnt bei den immer wieder unsachlichen und emotionalisierenden Berichterstattungen in den öffentlich-rechtlichen Anstalten, allen voran das Atlantikbrücken-Zentrum im ZDF, und es endet, wie immer, denn darauf ist Verlass, bei der Springer-Presse. Diese nutzte auch gleich das Ereignis der US-Wahlen, um so richtig die Welt auf den Kopf zu stellen. Die gestrige Headline lautete: “Das Schweigen der Tyrannen” (2, 3).
Gemeint war das bisherige Ausbleiben von Glückwunschtelegrammen aus Russland und China. Dass sich Staatsoberhäupter souveräner Staaten dazu entscheiden, einem neuen Präsidenten erst dann zu gratulieren, wenn er gewählt ist, soll in den teutonischen Köpfen als absurd gesetzt werden. So beginnt die Verbrämung, so entstehen Feindbilder und so wird die Welt vergiftet.
Sie schweigen, wenn sie reden sollten und sie geifern, wenn Schweigen angebracht wäre. Zur Klarheit tragen sie tatsächlich nicht mehr viel bei. Die Konzentration von Presse und Medien hat zu Meinungsmonopolen geführt, die dazu beitragen, die Gesellschaften tief zu spalten. Ja, eine freie und kritische Presse ist notwendiger denn je. Nur viele, die reklamieren, für sie zu stehen, lösen den Anspruch nicht ein.
Quellen und Anmerkungen
(1) Die Jugoslawienkriege (allgemein auch, aber ungenau als Balkankriege bezeichnet) umfassen eine Reihe von Kriegen und kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Diese sind mit dem Zerfall des Staates Jugoslawien verbunden. Zu den Jugoslawienkriegen gehören der 10-Tage-Krieg in Slowenien (1991), der Kroatienkrieg (1991–1995), der Bosnienkrieg (1992–1995), der kroatisch-bosniakische Krieg (1992–1994) im Rahmen des Bosnienkriegs, der Kosovokrieg (1998–1999) und der albanische Aufstand in Mazedonien (2001). Mit den Friedensabkommen von Dayton und Erdut wurden 1995 die Kriege in Bosnien und Herzegowina bzw. Kroatien beendet. Ungelöst blieb der Kosovo-Konflikt. Während der Jugoslawienkriege kam es zu zahlreichen Kriegsverbrechen.
(2) BILD.de (09.11.2020): Bisher keine Glückwünsche an Biden – Das Schweigen der Tyrannen.
(3) Als Tyrannei bezeichnet man in stark abwertendem Sinn eine als illegitim betrachtete Gewalt- und Willkürherrschaft eines Machthabers (Tyrann) oder einer Gruppe (Tyrannen). Der Begriff bezieht sich vor allem auf Herrschaftsformen mit brutalen und gewalttätigen Alleinherrschern (im Sinne auch einer Gewaltherrschaft), die an der Spitze der Tyrannei stehen.
Foto: Kelvin Moquete (Unsplash.com)
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.