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Philosophie

Zur Atomisierung der Öffentlichkeit

Die Einschränkungen, die der Öffentlichkeitsbegriff der bürgerlichen Gesellschaft mit sich brachte, sind im Strukturwandel der Öffentlichkeit durch Jürgen Habermas benannt: Besonders durch das Tempo der Technologie und die Monopolisierung des Besitzes verursacht, bleibt ein Großteil des Publikums stumm.

Im Jahr 1962 wurde die Habilitationsschrift von Jürgen Habermas bei Luchterhand als Buch veröffentlicht. Unter dem Titel “Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft” wurde die vorwiegend sozialwissenschaftliche Arbeit, die folgenschwer sein sollte, einer größeren Öffentlichkeit zugänglich (1).

Wie so oft in der Geschichte ist die Wahrnehmung und die Diskussion um diese Arbeit selbst ein virulentes Menetekel dessen, was erarbeitet wurde. Das Buch war publiziert und theoretisch jedermann zugänglich, gelesen und verstanden wurde es aber in einem sehr überschaubaren Kreis von Menschen.

Das, was in diesem Frühwerk von Habermas bereits normativ angelegt war, nämlich ein gesellschaftlicher Diskurs über das, was für das Gemeinwesen vonnöten und politisch empfohlen sein sollte, konnte von der demokratisch definierten Öffentlichkeit nicht vollzogen werden. Dafür fehlte Wissen und Bildung. Bis in sein Diskursmodell hinein, das bis heute die Diskussion über die Demokratie prägt, sollte sie immer unter dieser Insuffizienz leiden.

Rekonstruktion und Wahrheit im Jenseits

Doch von vorne. Habermas unternahm in seiner Arbeit vom Strukturwandel der Öffentlichkeit den Versuch, zu erklären, wie es historisch zu grundsätzlich unterschiedlichem Verständnis von Öffentlichkeit kommen konnte. Ausgehend von der griechischen Antike, in der Definition und Wahrnehmung von Staat und Gesellschaft zusammenfielen, rekonstruierte er den Weg bis in das kapitalistische Industriezeitalter.

Der Holismus im Staatsverständnis mutierte von dem antiken Universalismus, in dem das Gemeinwohl der Bürgergesellschaft den zentralen Fokus bildete, hin zu den europäischen Formen der Monarchie, in denen – vor allem der Absolutismus durch das Gottesgnadentum – die Vernunft und der mit ihr einhergehende Diskurs aller Beteiligten verbannt wurde. Es entstand eine Repräsentanz von Wahrheit, die in das Jenseits verbannt war und und die Untertanen außen vor ließ.

Erst mit dem Aufkommen des Bürgertums als einer Klasse von Gewerbetreibenden, die vor allem durch die Produktion von Waren zunehmend politisches Gewicht erlangten, kam der Wunsch eben dieser Klasse auf, an den politischen Geschicken teilzuhaben. Es begann mit der bis heute entscheidenden Frage nach dem Nutzen politischen Handelns. Dieses neue Bedürfnis einer zahlenmäßig wachsenden Schicht führte in der europäischen Neuzeit zu dem Gegensatz von Repräsentation und dem von unten gespiegelten Interesse.

Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit

Mit dem Bürgertum und den von ihm durch die Produktion von Waren zunehmend befriedigten Bedürfnissen der auch nicht durch die Macht präsentierten Schichten entstand ein Pressewesen, dass vor allem dem Bedürfnis des Bürgertums selbst zu begegnen suchte. Zeitungen entstanden, die über die Politik informierten und dazu genutzt wurden, in Caféhäusern, Salons und Leseklubs in einen Diskurs über den Sinn und die Wirkung der herrschenden Politik zu diskutieren.

Der Diskurs war geboren, beschränkte sich jedoch auf den Kreis derer, die die Kulturtechniken beherrschten und über relevante Bildung verfügten. Im Grunde handelte es sich um eine individuell wie kollektiv geschulte Öffentlichkeit, nämlich eine literarische Öffentlichkeit, die den Anforderungen eines rationalitätsfunktionalen Diskurses genügte. Die Bedingungen dieses Diskurses waren

  • Wahrheit (theoretische Vernunft)
  • Richtigkeit (praktische Vernunft) sowie
  • Wahrhaftigkeit (ästhetische Vernunft).

Die bürgerliche Gesellschaft hatte ihrerseits den Repräsentationsanspruch des Absolutismus durchbrochen, blieb jedoch mit ihrem Anspruch auf die kulturell sublimierten Mitglieder der eigenen Klasse beschränkt. Zudem etablierte sich die Dichotomie (2) von Öffentlichem und Privatem, einer Trennung, die es im antiken Vorbild nicht gegeben hatte und die als der geistige Tribut an die mit der bürgerlichen Gesellschaft einhergehenden Dominanz des Individuums in Betracht gezogen werden muss.

Bis zur Atomisierung der Öffentlichkeit

Die Einschränkungen, die der Öffentlichkeitsbegriff der bürgerlichen Gesellschaft mit sich brachte, sind im Strukturwandel der Öffentlichkeit durch Habermas benannt: Besonders durch das Tempo der Technologie und die Monopolisierung des Besitzes verursacht, bleibt ein Großteil des Publikums stumm.

Werbung, Public Relations und die Kulturindustrie tragen zu einer fortschreitenden Atomisierung der Öffentlichkeit bei. Die Arbeit endet mit dem Postulat einer Re-Politisierung der Öffentlichkeit.

Die Quintessenz der Arbeit zeugt von historischer Weitsicht.


Quellen und Anmerkungen

(1) Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas (Jahrgang 1929) gehört zu den weltweit meistrezipierten Intellektuellen der Gegenwart. Er wurde in der akademischen Fachwelt durch seine Arbeiten zur Sozialphilosophie und mit diskurs-, handlungs- und rationalitätstheoretischen Beiträgen bekannt. Für Habermas bilden kommunikative Interaktionen, in denen rationale Geltungsgründe erhoben und anerkannt werden, die Grundlage für die Handlungskoordinierung vergesellschafteter Individuen, deren Handlungsräume durch den Dualismus von System und Lebenswelt bestimmt werden. Mehr Informationen zum Beispiel auf www.habermasforum.dk (ENG) oder bei Perlentaucher.

(2) Der Begriff Dichotomie bezeichnet eine Struktur aus zwei Teilen, die einander ohne Schnittmenge gegenüberstehen. Sie können einander ergänzen (beispielsweise ein komplementäres Begriffspaar) oder eine Aufteilung in zwei Teile ausdrücken (zum Beispiel die Aufteilung eines Bereichs in zwei Teilbereiche).


Foto: Danilo Batista (Unsplash.com)

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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Eine Antwort auf „Zur Atomisierung der Öffentlichkeit“

Wieder einer dieser bewundernswert wissenschaftlich stringent formulierter Artikel, die von der semi-schwachsinnigen http://www.masse nicht wahrgenommen oder gar verstanden wird! Toll zu lesen, aber vermutlich erreicht er die Zielgruppe nicht, da sie ihn nicht verstünde? Wir erleben gerade im Übermaß, daß kein Unsinn groß genug ist, um nicht sofort eine riesige Fan-Gemeinde, sprich Glaubens-Gefolgschaft zu erschaffen, die ihm blind zu folgen bereit ist…

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