Der Cicero-Kolumnist Frank A. Meyer hat sich in einem bemerkenswerten Beitrag (1) mit der Fragestellung befasst, was nach dem ehemaligen Präsidenten der USA, Donald Trump, bleiben wird. Seine kurze wie nachvollziehbare Antwort: seine Wähler. Damit hat er zweifelsohne recht. Und er widmet sich denjenigen, die Hillary Clinton bereits im Wahlkampf 2016 nicht ohne wohlmeinendes Mitgefühl als the Deplorables, die Bedauernswerten bezeichnet hatte.
Gemeint ist damit die Gruppe, die in unseren Breitengraden unter dem Attribut Prekariat geführt werden. Es sind diejenigen, die das Tempo der Veränderung aus der Bahn wirft, die ihre Jobs verlieren und die seit langer Zeit keine Stimme mehr finden, die sich ihrer annimmt.
Das Problem, vor dem die amerikanische Gesellschaft genauso steht wie die unsere, ist der Verlust dieser Stimme im politischen Sinne. Weder die Demokraten in den USA noch die Sozialdemokratie oder die wie immer auch geartete Linke hierzulande ist aufgrund ihrer eigenen Ausrichtung dazu in der Lage, diese soziale Klasse, deren Anzahl beträchtlich ist, zu erreichen. Sie wird und sie sieht sich entmündigt. Niemand spricht für sie als tatsächlich existierendes soziales Subjekt. Mit etwas Glück werden sie in der einen oder anderen Frage kuratiert, ernst genommen werden sie jedenfalls nicht.
Die Abwendung der Deplorables
Frank A. Meyer kommt in seiner Betrachtung auf Kamala Harris zu sprechen und erwähnt, dass sie zeitgleich mit der Wahl auf der Titelseite des Nobelmagazins Vanity Fair erschien: strahlend, in teurem Outfit, designiert als die neue Hoffnung der Entmündigten. Dass es genau das ist, was diese Menschen jetzt nicht brauchen, ist seine Schlussfolgerung.
Bei der ganzen Euphorie, die im Hinblick auf das zu erwartende Endergebnis der US-Wahlen medial die Runde macht, wird diese Frage nicht erörtert. Es scheint so, als ob ein Lernprozess aus dem, was in den letzten Jahren nicht nur in den USA, sondern auch in Großbritannien und in Frankreich, in Spanien, in Italien und in Griechenland geschehen ist, keiner kritischen Bewertung unterzogen wird.
Die Abwendung der Deplorables, ihrerseits die Nachkommen der Miserables des 19. und 20. Jahrhunderts, von den existierenden politischen Ordnungen dessen, was sich als liberale Demokratie bezeichnet, wird keiner kritischen Analyse unterzogen.
Die Parvenüs und der Jahrmarkt der Eitelkeiten
Selbstverständlich werden Erklärungen geliefert, die arroganter nicht sein könnten. Da wird mitleidig von jenen gesprochen, die die Komplexität einer modernen, vernetzten und globalisierten Welt nicht verstehen, die nicht ihre Vorteile sehen und dem allem nicht mehr intellektuell folgen könnten.
Gerade diese Stimmen kommen zumeist aus dem Lager derer, die in früheren Zeiten die Stimme der Unterprivilegierten darstellten. Dort allerdings hat sich ein Personalwechsel vollzogen. Da sprechen erfolgreiche Karrieristen, die Hochschulen absolviert und die Kaderschmieden von Unternehmensberatungen durchlaufen haben. Da sitzt, wie die Deplorables es ausdrücken würden, das Hemd näher als der Rock. Gesellschaftliche Verantwortung sieht anders aus.
Wenn die Lernfähigkeit des politischen Systems, das immer so klug ist, wie ihre Akteure, einen dermaßen desolates Zeugnis ablegt, dann ist die Prognose auf die Zukunft anders, als es die gegenwärtige Euphorie vermuten lässt. Da wird weiterhin die Stunde schlagen für Demagogen á la Donald Trump, die daherkommen als unkonventionelle Kämpfer für die Restauration von Verhältnissen, die historisch längst passé sind. Parvenüs (2) auf der anderen Seite werden diese Tendenz nicht verhindern können. Der Jahrmarkt der Eitelkeiten ist nicht die Arena, in der die Geschicke über die Zukunft verhandelt werden.
Quellen und Anmerkungen
(1) Cicero Video-Kolumne (12.11.2020): …was nach Trumps Abwahl bleibt. Auf www.cicero.de/aussenpolitik/meyers-blick-donald-trump-usa-joe-biden (abgerufen am 14.11.2020).
(2) Ein Parvenü (ein Emporkömmling) ist eine in der ersten Generation zu Reichtum gekommene Person. Dieser wird die Unfähigkeit unterstellt, sich an die Umgangsformen und Konventionen der sogenannten besseren Kreise anzupassen. Dem Parvenü wird unterstellt, er wäre teilweise noch den Umgangsformen seines Herkunftsmilieus verhaftet und somit noch nicht (ganz) in den genannten besseren Kreise zu Hause.
Foto: Etienne Girardet (Unsplash.com)
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.