“Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht” war der Titel einer Schrift E. A. Rauters aus dem Jahr 1971 (1). In ihm befasste sich der Autor mit dem Phänomen der Meinungsbildung unter dem Aspekt politischer Manipulation. Und obwohl sich seither sehr vieles verändert hat auf dem Sektor von Information und Kommunikation, treffen viele seiner Beobachtungen immer noch ins Schwarze.
Information und Kommunikation
Neben den Faktoren der Meinungsbildung durch den gezielten Einsatz von Information und Sprache ist die Wirkung der Kommunikationsmedien selbst eine andere geworden. Das, was Marshall McLuhan mit dem Satz “Das Medium ist die Botschaft” so avantgardistisch und treffend beschrieb (2), ist heute zu einem Massenphänomen mit Wirkung geworden. Das Ding an sich, als Beispiel das Smartphone, ist zu einem Statussymbol avanciert. Und Statussymbole haben zumindest bei denjenigen, die ihm diesen Wert zuweisen, eine erotische Wirkung.
Neben der Technik der Meinungsbildung und dem Instrument der Verbreitung hat der Besitz, seinerseits ein archaisches Phänomen des Kapitalismus, seine Position trotz aller Revolutionierungen der Lebenswelten beibehalten und verteidigen können.
Mit der Monopolisierung der Kommunikationsmedien bei dem, was in der Schlacht um die Bedeutungshoheit Mainstreammedien genannt wird, hat der archaische Kapitalismus gepunktet. Die großen Printmedien und deren Internetportale befinden sich nur noch in den Händen weniger gleich dem Monopol auf Südamerikas Silberminen zur Zeit der kolonialen spanischen Krone.
Die Nachricht als kapitalistische Ware
Diejenigen, die sich in den Silberminen der heutigen Meinungsbildung verdingen, sind analog zum feudal-kolonialen Modell in zwei wesentliche Gruppen zu unterteilen. Zum einen die hoch bezahlten und gleich Provinzfürsten dotierten Chefideologen, die zumeist einer der amerikanischen Think-Tank-Schmieden entstammen. Sie verdienen sich im Prozess der Manipulation und Propaganda goldene Nasen, gehören in Habitus und Verkehrsform zur Nomenklatura des Staates und gelten als Mindsetter des Gewerbes.
Ihnen steht ein Heer hoch qualifizierter und schlecht bezahlter Schreiberinnen und Schreiber gegenüber, die entfremdete Arbeit leisten müssen. Sie beschäftigen sich nur noch, unter der Bedingung von Werk- und Zeitverträgen, mit der Fertigung von Textfragmenten, deren Kontext zumeist im Dunkeln bleibt. Selbst das affirmative Fragment geht ihnen gegen den Strich, doch auch für sie gilt, dass erst das Fressen kommt und dann die Moral.
Das, was Honoré de Balzac in den “Illusiones Perdues” (3) als das Wesen des modernen Pressewesens im Paris des 19. Jahrhunderts so treffend beobachtete, die Funktion der Nachricht als eine kapitalistische Ware, die unabhängig von Ethik, Wert und Moral den gleichen Produktionsbedingungen unterliegt wie etwa eine Werkbank, hat sich bis heute nicht geändert. Information wird gemacht und muss verkauft werden. Was sich geändert hat, ist die Qualität der Rezeption bei denen, die letztendlich mit der Information versorgt werden.
Informationsware aus den Pathologien einer degenerierenden Zivilisation
Zu warnen ist auch hier vor einer neuen Illusion. Weder hat sich das kritische Bewusstsein von einem hohen Niveau der frühen Tage des Presse- und Medienwesens zu einem heute degenerierten Konsumverhalten herab bewegt, noch ist davon auszugehen, dass die Demokratisierung von Wissen in einer bestimmten Phase der bürgerlichen Gesellschaft dazu geführt hat, dass in den frühen Tagen des Kapitalismus unreflektierte Analphabeten standen, während heute die kritische Reflexion als Massenphänomen beschrieben werden könnte.
Auch hier kann festgehalten werden, dass die Gesellschaft, von der wir sprechen, ihren Charakter nicht geändert hat. Sie ist gespalten in Arm und Reich, und die Zugänge zu Bildung korrelieren größtenteils mit der sozialen Kategorie, der man angehört. Die Einflussnahme auf den Homo sapiens funktioniert wie eh und je, und die Mechanismen, die angewendet werden, sind leicht zu durchschauen. Wirkungsvoll sind sie dennoch, und daher finden sie Anwendung.
Selbst das Neue, welches dem Kommunikationszeitalter zugeschrieben wird, der noch demokratischere Zugang zu essenziellem Wissen und der Quantensprung in der Bildung ähnelt einem längst bekannten Rondo. Beim Radio und später beim Fernsehen wurde analog argumentiert. Die Massenverbreitung erfolgte über die Stimulation mit dem Bildungsgedanken. Als die Ausstattung mit diesen Medien Standard war, verschwand das Bildungsargument und es folgte der Trash. 70 Prozent all dessen, so die aktuellen Expertisen, was im Internet an Information ausgetauscht wird, wird von keinem Bildungskanon gedeckt. Es handelt sich um die Informationsware, die aus den Pathologien einer zunehmend degenerierenden Zivilisation entspringen: Gewalt, Pornografie und Nonsense.
Die dystopische Degenerierung zum Objekt der Maschine
Bei der Betrachtung dessen, was die Meinung im Kopf eines jeden Einzelnen herausbildet, sind die Massenphänomene in Bezug auf die entwicklungs- und lernpsychologischen Aspekte keineswegs genügend gewürdigt. Im Gegensatz zu den Botschaften des Marketings für die neue Welt der Kommunikation und ihrer Apparate sind die Aspekte der Verkümmerung von Fähigkeiten und Fertigkeiten des Individuums längst nicht genügend dokumentiert.
Fest steht, dass Gedächtnis, räumliches Denken und die eigene Mobilität bis dato deutlich gelitten haben. Fest steht auch, dass neue Psychopathologien und neue Formen des Suchtverhaltens Einzug in das menschliche Dasein genommen haben.
Des Weiteren ist die Botschaft, die Dezentralisierung von Wissen fördere die individuelle Autonomie, schlichtweg auf die Klassenfrage geschrumpft: Während die finanziell Saturierten diese Botschaft ausleben können, werden die immer noch zu abhängiger Arbeit Verpflichteten mehr zum Anhängsel der Maschine als je zuvor. Algorithmen und Compliance sorgen dafür, dass der anonyme Wille, der sich dahinter verbirgt, stärker ist als das individuelle Schicksal, das die dystopische Degenerierung zum Objekt der Maschine selbst erleiden muss (4).
Der radikale Verlust des Vertrauens
Die Theorie der Kommunikation, das Herzstück dessen, das dem Zeitalter seinen Namen gibt, kommt ihrerseits zu Erkenntnissen, die das ganze Gebilde in seinem Fundament erschüttern. Die Erkenntnis ist banal, beschreibt aber sehr gut, um was es geht. Primordial für eine jede gelungene Kommunikation sind weder die technischen Anlagen noch die Sprachkompetenz, sondern eine gemeinsame Intentionalität (5).
Nur wenn alle Seiten wollen, dass Kommunikation funktioniert, kann sie auch funktionieren (6). Dieser gemeinsame Wille schwindet. Begründet ist dieses in dem radikal geringer werdenden Vertrauen in diejenigen, die vorgeben, kommunizieren zu wollen. Doch wer lediglich Meinung bilden will, will nicht kritisch kommunizieren. Und wer nicht kommunizieren will, bekommt als logische Antwort dasselbe Verhalten.
Quellen und Anmerkungen
(1) Ernst Alexander Rauter (1929 bis 2006) war ein Schriftsteller und Sprachkritiker aus Österreich. Rauter galt als “Kultautor” der 68er-Generation. Er arbeitete unter anderem als Kolumnist für die linke Zeitschrift konkret sowie als Ghostwriter für den Kabarettisten Wolfgang Neuss. E.A. Rauter: “Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht Oder das Herstellen von Untertanen” (München 1971); verfügbar als PDF auf http://tadema.de/thesen/e_a_rauter.pdf (abgerufen am 17.11.2020).
(2) Marshall McLuhan: Understanding Media: The Extensions of Man (2001).
(3) Honoré de Balzac: Verlorene Illusionen (Berlin 1996).
(4) Ernst Bloch: Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel (Frankfurt am Main 1985).
(5) Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation (Suhrkamp, Frankfurt am Main 2011).
(6) Michael Tomasello: Warum wir kooperieren (Berlin 2010).
Foto: Hennie Stander (Unsplash.com)
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.