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Pathologische Symptome: Droht der kollektive Hospitalismus?

Das, was allgemein so euphemistisch als Individualisierung bezeichnet wird, hat eine Dimension eingenommen, die durchaus auch unter der Bezeichnung der sozialen Deprivation gefasst werden kann.

Obwohl heute eher von sensorischer Deprivation die Rede ist, ist der Begriff des Hospitalismus noch geläufiger. Was ist damit gemeint? Es handelt sich um pathologische Symptome, die einem Verlust an sozialen Interaktionen folgt. Der Mensch, seinerseits ein soziales Wesen, hängt vital von sozialen Interaktionen ab. Es sind Sozialkontakte im Allgemeinen, Gespräche mit einem direkten Gegenüber, die Varianz unterschiedlicher Kommmunikationskontexte und der Reflexion des Geschehenen im Dialog. Es geht um das kulturelle Dasein des Menschen. Bleiben diese Möglichkeiten aus, setzt ein Prozess der sozialen Verarmung ein, es machen sich Verlustgefühle breit, depressive Befindlichkeiten sind die Folge (1).

Soziale Verarmung und virtuelles Dasein

Soziale Deprivation kann eingesetzt werden und wird gezielt eingesetzt, um Gefangene zu brechen, der juristische Begriff der Kontaktsperre umschreibt dieses ausführlich (2). Sie kann aber auch die Folge einer sozio-kulturellen Entwicklung sein.

Droht der kollektive Hospitalismus? (Quelle: Gerhard Mersmann/YouTube)

Das, was allgemein so euphemistisch als Individualisierung bezeichnet wird, hat eine Dimension eingenommen, die durchaus auch unter der Bezeichnung der sozialen Deprivation gefasst werden kann. Das, was scheinbar als eine bisher ungekannte Form der Freiheit im Zeitalter der Digitalisierung beschrieben wird, trägt im Keim die Gefahren der sozialen Verarmung in sich.

Die sozialen Kontakte reduzieren sich stetig, der synthetische, virtuelle Austausch mit Symbolträgern steigt. Schule, Familie, die Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz, das Leben in Vereinen und politischen Parteien, die Interaktion bei kulturellen Veranstaltungen, alles dies hat in den letzten zwei Jahrzehnten synchron zur wachsenden Digitalisierung rapide an Bedeutung verloren. Was bleibt, ist eine rasant wachsende Einbettung in das virtuelle Dasein. Ob dieses den Verlust kompensiert oder, wie zunehmend behauptet wird, die Möglichkeiten der sozialen Interaktion noch vergrößert, ist nicht erwiesen.

Der Eintritt in die post-heroische Gesellschaft

Belegt hingegen ist der mit dieser Entwicklung einhergehende Verlust des Gemeinsamen. Damit ist das Gefühl gemeint, dass etwas existiert, das über das individuelle Wohlbefinden hinausgeht und als Lebensgrundlage aller gilt. Politologen und Historiker bezeichnen diese Tendenz als das Eintreten in die post-heroische Gesellschaft, was nicht auf die Bereitschaft reduziert werden sollte, Kriege zu führen und seinem Vaterland zu dienen. Es ist, und das ist die Gefahr, die ebenso schwindende Bereitschaft, in die Sache der Gemeinschaft zu intensivieren. Alle sozialen Organisationsformen leiden darunter, von der Familie bis zum Staat.

Die gegenwärtige Krise, die mit der Pandemie eingeleitet wurde, hat sich bereits jetzt als ein Katalysator dieser Entwicklung herausgestellt. Unter der glorifizierten Überschrift der Digitalisierung vollzieht sich gegenwärtig eine Revolutionierung der Produktionsbedingungen bei gleichzeitiger weiterer Individualisierung der Lebensverhältnisse.

Hinzu kommt, dass durch die Einschränkung der bestehenden Sozialkontakte ein Austausch über die damit gemachten Erfahrungen im realen öffentlichen Raum unterbunden werden. Es ändert sich vieles grundlegend, und die ohnehin mit der Komplexität des virtuellen Lebens bereits Überforderten bleiben allein.

Kollektiver Hospitalismus als Folge

Die tatsächlich von der gegenwärtigen Regierung vorgenommene Triage bei der Entscheidung, welche Sektoren des volkswirtschaftlichen Handelns subventioniert und welche geopfert werden, ist eine katastrophale Option exklusiv für die Produktionsverhältnisse und gegen die politische Kultur.

Genau in den Zeiten, in denen sich das Unterste zuoberst kehrt, ist das genuin menschliche Verlangen nach direkter Kommunikation untereinander die wesentliche Bedingung für ein Fortleben der Gemeinschaft; eines Staates. Geschieht dies nicht, entsteht keine selbst bestimmte Pädagogik des kollektiven Willens, verkommt alles in dem Funktionalismus von Regel und Sanktion.

Die Folge ist eine Art kollektiver Hospitalismus, der mal pathologische, mal anarchische Formen anzunehmen droht.


Quellen und Anmerkungen

(1) Der Begriff Deprivation stammt vom lateinischen Wort “deprivare” (berauben). Dieser bezieht sich hier auf den Entzug von Reizen und psychosozialer Zuwendung. Unter Hospitalismus (Deprivationssyndrom) wrden alle negativen körperlichen und psychischen Begleitfolgen einer Deprivation verstanden, das heißt, vor allem dem (mehr oder weniger) massiven Entzug sozialer Interaktionen. Zu den schlimmsten Ursachen gehören mangelnde Umsorgung und lieblose Behandlung von Säuglingen und Kindern durch ihre primären Bezugspersonen (Eltern). Die hierdurch verursachten Störungen bestehen ein Leben lang fort und sind nur sehr eingeschränkt behandelbar. Gravierend kann sich ebenfalls der Entzug von Reizen durch beispielweise Isolationshaft auf völlig gesunde Erwachsene auswirken.

(2) Siehe auch: § 31 Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz auf https://dejure.org/gesetze/EGGVG/31.html (abgerufen am 20.11.2020).


Foto und Video: Dollar Gill (Unsplash.com) und Gerhard Mersmann

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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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