Manche Themenstellungen gelten als brenzlig. Umso wichtiger ist es, sich ihnen zu stellen, denn sonst ist der Schaden groß! Jetzt, nachdem hierzulande die amerikanischen Verhältnisse als geklärt gelten, weil man sich auf den Fokus Trump-Biden beschränkt, meinen viele, es gehe alles so weiter wie bisher. Wie das Bisher allerdings aussah, weiß auch keiner so genau.
Jill Lepore und ihr Manifest für eine bessere Nation
Nicht für das hiesige Publikum, sondern für ihr eigenes, amerikanisches, hat die Historikerin Jill Lepore (1) ein kleines Buch geschrieben, das als Appendix zu ihrem Werk über die Geschichte der Vereinigten Staaten angesehen werden muss und sich der Frage nach der Nation widmet. In der rund 150 Seiten umfassenden Schrift “Dieses Amerika. Manifest für eine bessere Nation” befasst sie sich exklusiv mit der Frage, wie in der Geschichte der USA der Nationenbegriff in den jeweiligen Phasen definiert wurde.
Und zur Verblüffung der hiesigen Leserschaft dokumentiert Jill Lepore sehr detailliert den steten, seit dem Entstehen der USA existierenden Kampf um die definitorischen Hoheitsrechte des Begriffs Nation, mit der jeweils daraus resultierenden konkreten Politik. Demnach standen sich immer zwei Lager gegenüber, das reaktionäre, auf Hautfarbe und Rasse setzende Lager und das andere Amerika, das sich unter dem Schirm der globalen Freizügigkeit, auf den Menschenrechten beruhende und sich internationalistisch verstehende versammelt.
Es wird deutlich, wie tief der Riss seit jeher sitzt und wie unentschieden das Resultat immer wieder war. Das Urerlebnis des Bürgerkrieges, in dem sich die ständische, auf Sklavenarbeit beruhende Konföderation mit der auf Erfordernisse des modernen Industrialismus und auf Freizügigkeit setzenden Union bekriegten, wirkt bis heute (2). Und dann, auch das ist bereichernd bei der Lektüre, die Stimme der Nationen, die aus den indigenen Völkern des Kontinents bestanden und eine völlig andere Vorstellung von Autonomie hatten. Und die, auch das gehört zur Wahrheit, extrahiert waren von den Menschenrechten, wie sie in der Unabhängigkeitserklärung und als historische Vorlage für die Französische Revolution formuliert waren.
Die Definitionshoheit des reaktionären Lagers
Das wäre immer noch dankbares Material für einen gar nicht so aktuell wirkenden Historikerstreit, wenn die Autorin nicht darauf aufmerksam machte, dass die Fraktion des liberalen Nationalismus in den USA seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geglaubt hatte, dass es nun endgültig mit dem Nationalismus im reaktionären, aggressiven und sich von anderen abgrenzenden Sinne vorbei sei. Das Thema der Nation wurde ersetzt durch das Agieren in internationalen Kontexten. Damit war das Feld dem illiberalen, reaktionären Lager überlassen, das sich dafür bedankte und die Definitionshoheit seitdem inne hat.
Vor allem Letzteres ist auch ein europäisches Phänomen. Da, so die Theorie der global agierenden, sich selbst als ultra-modern verstehenden Politikfraktion, die Nation ein Relikt aus einer längst überwundenen Zeit sei, glaubte man, sich um eine Präzisierung des Nationenbegriffs nicht mehr bemühen zu müssen und verwies auf internationale Zusammenschlüsse. Und alle Initiativen, die sich dem widersetzten, so radikal und demokratisch sie auch sein mochten, wurden abgestempelt als reaktionär und historisch überkommen. Das Resultat sind die populistischen Bewegungen, die das Geschäft gerne exklusiv übernahmen. Und die Wirkungskraft im internationalen Kontext blieb überschaubar und wirkt nicht, wie erwartet, stärker als das Bedürfnis einer lokalen und nationalen Klärung der Identität.
Jill Lepore, ihrerseits Nachkomme von klassischen Einwanderern, plädiert für einen liberalen, radikal demokratischen und universalistischen Nationenbegriff. Reaktionär klingt das nicht.
Angaben zum Buch
Dieses Amerika. Manifest für eine bessere Nation (Originaltitel: This America. The Case for the Nation)
Autor: Jill Lepore
Genre: Sachbuch
Sprache: Deutsch
Seiten: 158
Veröffentlichung: 2. Edition (Mai 2020)
Verlag: C.H.Beck
ISBN: 978-3-406-74920-9
Quellen und Anmerkungen
(1) Jill Lepore (Jahrgang 1966) ist Historikerin, Essayistin und Redaktionsmitglied beim Magazin The New Yorker. Außerdem ist sie als Hochschullehrerin an der Harvard University tätig. Sie befasst sich mit amerikanischer Geschichte, verfasste zahlreiche Bücher und ist Mitgründerin der historischen Online-Zeitschrift Common-place. Ihr Werk The Name of War wurde 1999 mit dem Bancroft Prize der Columbia University ausgezeichnet. Er gilt als der bedeutendste Preise für amerikanische Geschichtsschreibung.
(2) Der Amerikanische Bürgerkrieg (Sezessionskrieg) wurde von 1861 bis 1865 zwischen den aus den Vereinigten Staaten ausgetretenen und in der Konföderation vereinigten Südstaaten und den in der Union verbliebenen Nordstaaten (Unionsstaaten) ausgetragen. Als Ursache gilt eine tiefe wirtschaftliche, soziale und politische Spaltung zwischen Nord- und Südstaaten. Diese kristallisierte sich unter anderem an der Frage der Sklaverei. Als Reaktion auf die Wahl von Abraham Lincoln, einem gemäßigten Gegner der Sklaverei, zum US-Präsidenten traten im Winter 1860/61 die meisten Südstaaten aus der Union aus.
Die militärischen Auseinandersetzungen begannen mit der Beschießung Fort Sumters durch die Konföderierten am 12. April 1861. Der Bürgerkrieg endete am 9. April 1865 mit der Kapitulation der konföderierten Nord-Virginia-Armee in Appomattox Court House. Aber erst am 23. Juni 1865 kapitulierten im Indianerterritorium die letzten Einheiten der Konföderierten. Nach dem Sieg des Nordens wurden die Südstaaten im Rahmen der Reconstruction wieder in die Union aufgenommen. Das Ergebnis des Bürgerkriegs war eine Stärkung der Zentralmacht, außerdem die verstärkte Ausrichtung des Landes als Industriestaat sowie die offizielle Abschaffung der Sklaverei.
Doch in der Realität findet Sklaverei bis in die Gegenwart statt (die Gefängnisindustrie liefert das praktische Beispiel), lediglich die Grundlage wurde auf ein anderes rechtliches Niveau verschoben. Im 13. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten steht:
Weder Sklaverei noch Zwangsdienstbarkeit darf, außer als Strafe für ein Verbrechen, dessen die betreffende Person in einem ordentlichen Verfahren für schuldig befunden worden ist, in den Vereinigten Staaten oder in irgendeinem Gebiet unter ihrer Gesetzeshoheit bestehen.
Foto: Chirag Saini (Unsplash.com)
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.