Ist es vorstellbar? Ein Leben ohne Geschichte? Bei Betrachtung all dessen, was uns täglich in den Gazetten der digitalen Informationsflut entgegen peitscht, sollte davon ausgegangen werden können, dass zumindest bei dem einen oder anderen Ereignis, das die Gemüter erregt, etwas aus dem historischen Hintergrund zur Erklärung hinzugezogen werden sollte. Aber, das muss konzediert werden, wenn es dem eigenen Standpunkt nutzt, dann durchaus, gefährdet es die eigene Bewertung, dann wird die historische Dimension schlicht ausgeblendet. Das könnte enden in einer verzweifelten Schelte der Medien, vielleicht ist es aber auch ein Symptom der Zeit.
Neben dem historischen Unwissen, das zweifelsohne überall herrscht, obwohl die Quellen noch nie so leicht zugänglich waren, fehlt oft die Überzeugung, dass durch die Betrachtung der Geschichte etwas erklärt werden könnte.
Wie dem auch sei: Das propagierte Ende der Geschichte mit dem Jahr 1991, das der amerikanische Politologe Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion propagierte, setzte folgerichtig durch den Verzicht auf Kenntnis und Deutung der Geschichte ein, zumindest in der allgemeinen, an öffentlichen Schulen zugänglichen Bildung. Heute, in Zeiten der orkanartigen Verbreitung von Schauergeschichten und mystizistischer Weltendeutung und der daraus folgenden Hochkonjunktur von Demagogen, wird diese Lücke zuweilen beklagt. Zumeist, in einer kurzen Atempause zwischen im Staccato aufeinander folgender technokratischer Aktionspläne, um dann, wenn die nächsten Kontrolllampen blinken, wieder in die vertrauten Weisen zu verfallen. Politisch hingegen ist der Schaden nicht mehr zu beziffern – und er wird noch wachsen.
Die Liquidierung der Geschichte
Die politisch Handelnden sind oft in der Abstrusität ihrer Argumentation nicht mehr zu überbieten. Da sind Sätze zu hören, in denen der Zweite Weltkrieg mit seinem Hauptaggressor und seinen Bezwingern völlig neu geschrieben wird. Da wird Großbritannien plötzlich zur Schutzmacht der Demokratie in Hongkong und da wird China als eine traditionell aggressive imperialistische Macht ausgewiesen. In der guten alten Schule, die es selbstverständlich nie gab, da hätte dieses alliterate Geplärre allenfalls zu einer ungenügenden Note, vielleicht aber auch zu einem Verweis verholfen. Heute ertönen diese Dummheiten aus den Mündern oberster Mandats- und Würdenträger.
O tempora, o mores, könnte man sagen und den Verfall der Sitten beklagen (2). Aber dem ist nicht so. Es geht um die im kollektiven Herrschaftsbewusstsein zielgerichtet inszenierte Liquidierung der geschichtlichen Kenntnisse, denn sie könnten schnell dazu führen, dass das Handeln der Mächtigen mit Fug und Recht hinterfragt würde und der ganze Unsinn, mit dem die Herrschaft und vor allem seine aggressive Variante nach außen begründet werden, fiele zusammen wie ein Kartenhaus.
Daher ist es notwendig und wichtig, Geschichte als das darzustellen, als das es ist. Als eine Abfolge von Episoden aller möglichen Irrungen und Wirrungen, die sich erklären lassen aus bestimmten sozialen Bedürfnissen, aus archetypischen Mustern von Machtstreben und Machterhalt und als ein Sammelsurium menschlicher Veranlagungen, die, werden sie von bestimmten Strukturen begünstigt, zu voller Geltung kommen. Das ist spannend, das ist bedenkenswert und das regt immer wieder dazu an, sich Gedanken über das Hier und Jetzt zu machen. Das ist nicht viel, aber es recht aus, um dem amöbenhaften Alltagsrausch der täglichen Lichterketten der Bedürfniisse zu entkommen und in die tiefe des Raumes zu schauen. Und, schließlich geht es immer um Raum und Zeit. Dem Schicksal entkommen wir nicht, mögen wir das Geschehene auch noch so gewaltsam ausblenden. Es wird nicht besser, sondern anders. Und daraus muss das Beste gemacht werden.
Quellen und Anmerkungen
(1) Yoshihiro Francis Fukuyama (Jahrgang 1952) ist Politikwissenschaftler und Direktor des Zentrums für Demokratie, Entwicklung und Rechtsstaatlichkeit am Freeman Spogli Institute for International Studies der Stanford University. Er forscht unter anderem zu Entwicklungsländern, über Nationenbildung, Demokratisierung, Governance und Sicherheitsfragen. Bekannt wurde Fukuyama durch seine These vom Ende der Geschichte. Er ging vom Siegeszug der liberalen Demokratie nach dem Ende des Ostblocks und dem Zerfall der Sowjetunion aus. Fukuyama verfasste zahlreiche Bücher, darunter “Identität – Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet” (2019).
(2) “O tempora, o mores!” (O (was für) Zeiten, o (was für) Sitten!) ist eine lateinische Redensart. Mit ihr wird der Wandel der Zeiten und der Verfall der Sitten beklagt.
Foto: Pascal Bernardon (Unsplash.com)
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Ein Leben ohne Geschichte?“
Danke, für diesen schönen und wichtigen Artikel! Machtstreben oder auch nur der schnöde Machterhalt führen zwangsläufig zu Machtmissbrauch. Ob nun das Auslöschen oder Verdrehen der Geschichte – es ist letztendlich durch einen Machtmissbrauch möglich, wo Machtstreben und Machterhalt in Co-Abhängigkeiten führte. Wer seinen Status verbessern oder erhalten möchte muss sich fügen. Wer an Machtambitionen rüttelt katapultiert sich ins Abseits – die Karriere ist beendet. Und was ist man dann schon, in einer Gesellschaft, wo ein Kennenlernen oft mit der Frage nach dem Berufsstatus beginnt, wenn man, warum auch immer, nicht bereit ist sich einem System zu fügen – wo Heuchelei, Eitelkeiten und ein von Skrupeln befreiter Egoismus zum gewöhnlichen Tagwerk gehören, wie der Mond zur Erde.
Geschichte bedeutet auch Identität, denn ohne Geschichte steht der Mensch in einem Niemandsland. Schließlich hat die Geschichte die Menschheit und somit auch das Individuum dort hin geführt, wo es heute steht. Egal, wie schön oder schlimm die eigene Geschichte sein mag – sie ist eine Wurzel der eigenen Identität. Deshalb darf die Geschichte weder verfälscht noch gelöscht werden. Ein Individuum ohne (authentische) Geschichte ist nicht es selbst, sondern wird so zu einem orientierungslosen, führungsbedürftigen Objekt für weiteren Machtmissbrauch. Dies zu unterbinden, sollte meines Erachtens ein Anliegen jedes Bürgers sein, der sich nicht zum Objekt von Machtambitionen degradieren lassen möchte. Aus diesem Grund finde ich es sehr wichtig, darauf zu achten, wie weit die geplante Digitalisierung der Gesellschaft geht und wer sie gestaltet. Bisher haben hier nämlich jene machtbesessenen das Zepter in der Hand. Was wir an beklagenswerten Zuständen bei Wikipedia vorfinden, darf sich nicht in die digitalen Räume von Lehre und Wissenschaft fortsetzen – wo dann die braven Unterstützer der Machtbesessenen Deutungshoheiten zementieren und somit die Identität der Individuen bestimmen. Dass wir es am Ende nicht mehr mit wirklichen Individuen, sondern mit Uni(n)formierten zu tun hätten, ist meines Erachtens eine Zukunftsvision, die keinerlei Berechtigung verdient.