Die Gemengelage ist heikel. Da ist eine Pandemie, die einen intelligenten Umgang erfordert. Und da ist Politik, die zumindest hierzulande mit so etwas keine Erfahrung hat. Pläne für eine solche hätte es gegeben, wäre es nicht vielen Verantwortlichen so unwahrscheinlich erschienen, dass so etwas dann doch einmal kommen mag.
Der Triumph über das Gesundheitswesen
Es waren vor allem die Deutschen, die vor wenigen Jahren eine Agenda zum Umgang damit in der EU vom Tisch wischten. Nun, es ist immer preiswert, sich im Nachhinein darüber zu empören. Was allerdings, auch und besonders im Kontext mit dem jetzigen Infektionsgeschehen, unverzeihlich wirkt, ist die Umwandlung des Gesundheitswesens in den letzten Jahrzehnten nach exklusiv betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten. Nicht die erforderliche Versorgung der Bevölkerung mit dem hohen Gut einer auskömmlichen medizinischen Versorgung stand mehr im Mittelpunkt, sondern Fallzahlen, Gebührensätze und Bettenauslastung. Ein Triumph des Wirtschaftsliberalismus – und zwar an einer neuralgischen Stelle.
Die Reaktion der Politik auf die Pandemie, die anfangs noch sehr gelobt wurde, hat sich nicht von den Maximen der technokratischen und betriebswirtschaftlichen Betrachtung gelöst. Die Zahlen, mit denen die Bevölkerung rund um die Uhr bombardiert werden, haben nur eine Bezugsgröße: nämlich die Kapazitäten im Gesundheitsbereich, die gegenwärtig zur Verfügung stehen. Das bezieht sich sowohl auf die gleichbleibende Anzahl der Intensivbetten (1) als auch auf das zur Verfügung stehende Fachpersonal.
Von dem vielen Geld, das im Zusammenhang mit der Pandemie ausgegeben wurde, ist seit dem Monat März, dem Beginn des ersten Lockdowns, nichts oder kaum etwas in die Ausweitung der bestehenden Kapazitäten geflossen. Allein die schäbigen Abschlüsse in den das Fachpersonal betreffende Tarifverhandlungen dokumentieren, dass bis heute kein Umdenken erfolgt ist. Anstatt die Wichtigkeit dieser Leistungen zu erkennen und diese attraktiver zu gestalten, reiste der zuständige Minister beispielsweise 2018 nach Albanien, um billige Arbeitskräfte zu akquirieren (2). Nach Lernfähigkeit sieht das nicht aus.
Instrumentalisierung und Machtdenken
Und dann kommt noch ein Faktor hinzu, der sich als besonders gefährlich erweisen wird. Das Verhaften in dem Glauben, dass mit Regel und Sanktion allein derartige Situationen beherrschbar seien, ist ungebrochen. Das ist aber der eingeschlagene Weg. Und nun, in dieser Lage, kommt eine Versuchung hinzu, die in dem einen oder anderen Fall den Verdacht bestätigen, dass diese Krise instrumentalisiert werden soll, um die eigene politische Agenda weiter verfolgen zu können.
Wie eine Überschrift steht da das Zitat des Bundestagspräsidenten, dass eine Krise, die heftig genug ist, die Menschen schon gefügig machen wird (3). Ja, dreister kann man sein eigenes Verweilen in den Gefilden absoluten Machtdenkens nicht illustrieren. Und der Mann steht da nicht allein. Da ist es nicht allzu überzogen, bei allen Gesetzesvorhaben und Verordnungen, die da durch die Gremien rauschen, die Augen offen zu halten.
Coronoia ist kein politisches Programm!
Beflügelt wird diese Tendenz noch durch die im nächsten Jahr anstehenden Bundestagswahlen. Das Krisenmanagement als Messlatte für diese Wahlen mag ein kleiner Anhaltspunkt für pragmatische Geschäftsfähigkeit sein. Ein gravierendes Kriterium ist es jedoch nicht. Denn da geht es um wesentlich mehr. Da geht es um die digitale Revolution in Industrie und allen Lebensbereichen, da geht es um Krieg und Frieden, da geht es um die soziale Disposition der Gesellschaft und da geht es um den Erhalt der globalen Lebensgrundlagen. In diesem Kontext lohnt sich die Frage, ob ausgerechnet die Akteurinnen und Akteure, die sich in den zahlreichen Sondersendungen und Talkshows häuslich eingerichtet haben, einen nennenswerten Beitrag werden leisten können? Coronoia ist kein politisches Programm!
Quellen und Anmerkungen
(1) Statista (14.9.2020): Krankenhausbetten zur intensivmedizinischen Versorgung in Deutschland bis 2018. Auf https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1105205/umfrage/krankenhausbetten-zur-intensivmedizinischen-versorgung-in-deutschland (abgerufen am 09.12.2020).
(2) WELT (1.7.2018): Spahn will Pflegekräfte aus Albanien und dem Kosovo anwerben. Auf https://www.welt.de/politik/deutschland/article178539612/Gesundheitsminister-Spahn-will-Pflegekraefte-aus-Albanien-und-dem-Kosovo-anwerben.html (abgerufen am 09.12.2020).
(3) Wolfgang Schäuble (21.8.2020): “(…) Die Corona-Krise ist eine große Chance. Der Widerstand gegen Veränderung wird in der Krise geringer …” Auf https://wolfgang-schaeuble.de/die-pandemie-ist-eine-grosse-chance/ (abgerufen am 09.12.2020).
Foto: Camilo Goes (Unsplash.com)
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Coronoia ist kein politisches Programm!“
Zumindest im Moment hat es den Anschein, daß das neoliberale Wirtschaftskonzept von der Politik NICHT generell in Frage gestellt wird?
Die BEKLATSCHTEN HELDEN in Krankenhäusern und Pflegebereich, werden immer noch mehr mit Arbeit belastet, nur mit mehr Geld ist man äusserst sparsam! Es gibt sogar Untersuchungen die vermuten lassen, daß sich hier eher eine Lohn- und Gehaltsreduktion anbahnt, was der erste Schritt zu einem Austausch des Pflegepersonals durch importierte “Billigarbeitskräfte” á la Tönnies oder Erntehelfer anbahnt?
Der Schuldenberg, als wirtschaftliche Folgen der Pandemie, wird aber von uns allen abgetragen werden müssen, während die Milliarden an Hilfen mit der ganz großen Gießkanne an Automobilkonzerne, Luftfahrtgesellschaften, Reisekonzerne, Scheinprivatisierte Bahnunternehmen, etc. verteilt werden, also an den “status quo antes” Corona.
Mittelfristig wird es aber wohl keinen unnötigen Warenverkehr á la” just in time” Lagerbeständen auf deutschen Autobahnen oder Billigsttourismus á la Mallorca mehr geben? Auch Regionalflughäfen stehen auf der Kippe, wie z.B. Kassel-Calden und Paderborn-Lippstadt.
Dafür dürfen (spätestens) unsere Nachkommen für weniger Geld viel länger arbeiten und unsere Politik hat anscheinend kein Problem damit und ist sich darin offenbar von links bis rechts im politischen Spektrum weitgehend einig? Motto: Import von Billigst-Arbeitskräften aus Südost-Europa GUT, Import von Billig-Russengas via Nordstream anstatt teurer US-Fracking-Flüssiggas-Brühe GAAANZ SCHLECHT! Politiker, die uns das erklären können, haben wir genug…