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Renaissance der Apologetik

Alle, die gelernt haben, dass es zu den Grundprinzipien der modernen Zivilisation gehört, um Wahrheit in einem Wettstreit sich widersprechender Meinungen und Erkenntnisse zu ringen, müssen sich die Augen reiben, wenn sie das betrachten, was von einem gesellschaftlichen Diskurs überhaupt noch zu identifizieren ist.

Ihre Geschichte reicht bis ins 2. Jahrhundert zurück. Dort handelte es sich um griechische Magistratsbeamte, die mit allen Mitteln der Logik und Argumentation den Standpunkt von Staat und Glauben zu verteidigen suchten. Später, im exklusiv christlichen Kontext, ging es darum, die offizielle Lehre zu untermauern und gegenteilige Auffassungen zunächst argumentativ, dann auch mit anderen, drastischeren Mitteln zum Schweigen zu bringen. Und als der Marxismus seinen Siegeszug begann, tauchte der Begriff wieder auf. Diesmal, um generell starre, dogmatische Standpunkte zu geißeln.

Die Vernichtung von Trägern anderer Meinungen

Die Apologetik hat also eine lange Geschichte und durchlebte in ihrer Deutung eine Metamorphose von einem Standpunkt im nach den Gesetzen der Logik geführten Diskurs bis zur polemischen Rechtfertigung bestehender Verhältnisse. Und so, wie es aussieht, sind die Apologeten, in letzterem Sinne versteht sich, auf dem Vormarsch. Denn alles, worüber gestritten werden muss, geschieht in einem polemischen Kontext, das heißt, nicht im positiven Sinne der Polemik, sondern in seiner negativsten Erscheinungsform, dem Ansinnen der Vernichtung von Trägern anderer Meinungen als derjenigen, von der die neuen Apologeten glauben, dass sie die einzig richtige ist.

Alle, die einmal gelernt haben, dass es zu den Grundprinzipien der modernen Zivilisation gehört, um Wahrheit in einem Wettstreit sich widersprechender Meinungen und Erkenntnisse zu streiten, müssen sich die Augen reiben, wenn sie das betrachten, was von einem gesellschaftlichen Diskurs überhaupt noch zu identifizieren ist. Die bestehenden Verhältnisse repräsentieren immer die Macht. Das ist eine Erkenntnis erster Ordnung, vor der sich niemand verschließen sollte. Und Gesellschaften, die sich auf dem Konsens gründen, dass es legitim ist, sich gegen die Vorstellung, die die Macht artikuliert, argumentativ zu wehren, sollten sehr darauf achten, wie sie mit dem artikulierten Dissens umgehen.

Es existieren zwei Grundkategorien von Sanktion. Die eine, immer präsente und von jedem Gesellschaftssystem verwendete, ist die juristische mit exekutiven Folgen. Wer sich den Weltinterpretationen der Mächtigen widersetzt und sich zur Aktion entschließt, muss damit rechnen, dass die Gesetze, die er missachtet, seine Maßregelung zur Folge haben. In Bezug auf Gesellschaften, die alleine schon den verbalen Dissens verbieten, und die das Attribut der Diktatur verdienen, wird auch heutzutage gerne das Missfallen geäußert. Politische Systeme, die sich mit der Umschreibung der Demokratie schmücken, sollten jedoch darauf achten, dass sie nicht zu einem anderen Mittel greifen, dass nicht juristisch greift, aber auch eine drastische Sanktion nach sich zieht, nämlich die der sozialen Ächtung.

Die Renaissance der Apologetik

Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass jeder Mensch die Positionen, die er vertritt, verantworten muss. Es sollte ebenso selbstverständlich sein, dass das Vertreten anderer, nicht dem offiziellen Deutungskurs entsprechenden Ansichten und Meinungen, nicht dem Zweifel ausgesetzt werden, zurechnungsfähig oder vernünftig zu sein. Die Schwierigkeit, die entsteht, ist oft die Gemengelage. Denn es existieren auch argumentative trojanische Pferde. Sie werden eingesetzt von Demagogen, die den berechtigten Dissens zur herrschenden Ordnung zu instrumentalisieren suchen und sich auf die Prinzipien einer Ordnung berufen, die sie selbst ablehnen.

Aber reicht das aus, um den Rest, die große Masse, denen unwohl ist aufgrund der herrschenden Verhältnisse, mit den Demagogen in einen Topf zu werfen? Ist das, und selbiges geschieht jeden Tag, nicht eine Renaissance der Apologetik im historisch schlechtesten Sinne? Und warum fallen in diesem Kontext ausgerechnet Zitate ein, die aus dem benachbarten Frankreich stammen? Wie wird noch Voltaire etwa zitiert? “Ich bin entschieden gegen Ihre Meinung, aber ich werde alles dafür tun, dass Sie sie immer werden kundtun können?”

Und was sagte zweihundert Jahre später der französische Staatspräsident General De Gaulle, als ihm der Innenminister im Zusammenhang mit den Aufständen des Mai 1968 vorschlug, Jean Paul Sartre zu verhaften? “On n’arrete pas Voltaire!” Man verhaftet keinen Voltaire!

Beides liegt nun lange zurück. Nicht nur in Frankreich!


Foto: Jose López Franco (Unsplash.com)

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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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