Sie erinnern sich? Anfang des Jahres 2020, als ein neuartiges Virus von sich reden machte und von China aus die Welt eroberte? In Europa begann es zunächst in Italien seinen Siegeszug, dann ergriff es Österreich und gelangte aus einem Nobel-Skiort in fast alle Winkel des Kontinents. Abgesehen davon, dass mit dem Auftauchen sofort die Legenden aus dem Boden schossen wie die Frühlingsknospen, die sich vor allem mit der Schuldfrage befassten und an Feindbildern arbeiteten, ließ sich schnell identifizieren, wie unterschiedlich einzelne Länder versuchten, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen.
Euphorie und Resignation
Während China genaralstabsmäßig vorging, das heißt, die Zentren der Verbreitung isolierte und rigoros dagegen vorging, versuchte man es in Europa zunächst sanfter, und in den USA wurde seitens der Administration die Gefährlichkeit des Virus exklusiv geleugnet.
Erkenntnisse drängten sich auf. Globalisierte Lieferketten funktionierten plötzlich nicht mehr, ganze Produktionszweige gingen in die Knie, Medikamente waren nicht mehr lieferbar, medizinische Grundausstattung wie zum Beispiel Masken in ausreichender Menge waren nicht verfügbar. Schnell stellte sich heraus, dass die Globalisierung mit ihrer multiplen physischen Interaktion eben auch dazu geeignet ist, Krankheiten schneller zu verbreiten, und dass die Produktion nach dem exklusiven Motto der Kostenminimierung, egal zu welchem kollateralen Preis, die lokale Autonomie meuchelt wie in einem perfiden Krimi.
“Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!”
— aus: Die Internationale (Deutscher Text von Emil Luckhardt, 1910).
Und als auch hierzulande der Normalbetrieb heruntergefahren wurde, da wurde vielen plötzlich deutlich, wie viel Überflüssiges den vom Mantra des ständigen Wachstums gepeitschten Menschen auf den Schultern lastet. Und als das alles deutlich wurde, leuchteten neue Horizonte auf. Plötzlich wurde davon gesprochen, was alles aus dieser gleich einer höheren Gewalt auf die Gesellschaft niedergekommenen Krise gelernt werden könnte. Und viele meldeten sich zu Wort. Und sie ergriffen die Chance, um von einer Zukunft zu träumen, in der vieles anders sein könnte, und vieles nicht mehr stattfinden sollte, was schon seit langem als destruktiv, Natur und Menschen zerstörend und ohne Perspektive angesehen wurde.
Ja, die Euphorie trieb manche soweit, dass sie den Kapitalismus mit seinen Verwertungsprinzipien, der immer wieder erneuernde, immer wieder Kriege inszenierende, immer mehr die Natur zerstörende, der mit dem kalten Herz, dass dieser Kapitalismus am Ende sei.
Coronakrise und Kapitalverwertung
Nun, heute, im Angesicht des zweiten Lockdowns, sind diese Stimmen leise geworden. Zu sehr wurde im Laufe dieses Jahres deutlich, dass von selbst sich nicht viel mehr wird ändern können. Die viel zitierte gesellschaftliche Vernunft hat anscheinend keine Stimme, solange die Ultima Ratio der Kapitalverwertung das Zepter in der Hand hält.
Die Löhne werden weiter gedrückt, wie am verheerendsten in der Pflegebranche deutlich wurde, das Gesundheitswesen folgt nach wie vor der betriebswirtschaftlichen Logik, und daher wurden keine Kapazitäten erweitert, die Vernichtung von gesellschaftlichem Kapital durch Erhöhung der Rüstungsausgaben erfolgt verstärkt, die internationale Konkurrenz wird weiter gepflegt bis zur massiven Produktion von Feindbildern und Appelle an internationale Kooperationen verpufften.
Die Menschen, die sich so sehr eine Umkehr im Denken gewünscht hatten, sind zu der Erkenntnis gekommen, dass es keinen Zweck mehr hat, an das Gute zu glauben. Anstatt zu resignieren, ist diese Erkenntnis das Erfreulichste an der ganzen Krise. Sie hat gezeigt, dass alles so bleibt, wie es ist, dass es vielleicht noch schlimmer wird, wenn man in Passivität verharrt und an irgendwelche Mächte glaubt, die die Welt zu einer besseren machen würden. Die gibt es nicht. Das ist zwar eine alte Weisheit, aber manchmal muss es schmerzen, dass so etwas dem kollektiven Bewusstsein wieder einfällt: Es rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!
Foto: Nahel Abdul Hadi (Unsplash.com)
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.