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Rezension

Philipp Blom: Die Welt aus den Angeln

Tragen Naturereignisse dazu bei, bestehende Gesellschaftsordnungen durcheinanderzuwirbeln? Philipp Blom geht in seinem Buch “Die Welt aus den Angeln” dieser Frage nach. Als Beispiel dient die Kleine Eiszeit.

Ist es denkbar, dass Naturereignisse dazu beitragen, bestehende Gesellschaftsordnungen aus den Fugen zu heben? Eine Fragestellung, wie sie aktueller nicht sein könnte!

Der Autor Philipp Blom ist genau dieser Frage nachgegangen. Als historische Vorlage hat er das genommen, was als Kleine Eiszeit in die Geschichtsbücher eingegangen ist und in Bezug auf die Menschheitsgeschichte in ihrer Gesamtdimension noch gar nicht solange her ist. Mehr noch, die Kleine Eiszeit von 1570 bis 1700 war nicht exklusiv, aber mitverantwortlich für das, was in Europa als moderne Zivilisation bezeichnet wird.

“Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie die Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart” ist der erfolgreiche Versuch, komplexe Wirkungszusammenhänge erklärbar zu machen.

Die Stärken im Buch von Philipp Blom

Es spricht für Blom, dass er nicht mit der vielleicht allzu billigen Version daherkommt, die einen Klimawandel ausschließlich dazu zu ermächtigen, die Welt, in der sich menschliche Gesellschaften eingerichtet haben, radikal zu verändern. Was historisch jedoch belegbar ist, sind bestimmte Fakten, die vieles zur Entstehung der modernen Welt beigetragen haben.

Der Kälteeinbruch in Europa um jene Zeit, der brachiale Winter zur Folge hatte, zerstörte das Prinzip der feudalen landwirtschaftlichen Produktion. Da in Europa Getreide fehlte und Hungersnöte ausbrachen, wurde aus Nahrungsmitteln plötzlich eine Ware, die importiert werden musste und das Entstehen der Börse zur Folge hatte. Handelshäuser waren die neuen Mächte, eine Effektivierung der Produktion die notwendige Konsequenz. Und die feudalen Landbesitzer stellten sich als eine Kaste dar, deren Zeit vorbei war.

Der mentale Umgang mit drastischen Naturphänomenen hatte gleichzeitig zur Folge, dass die alten, vor allem durch die katholische Kirche gelieferten Erklärungsmuster für die Existenz des Menschen und seiner Bestimmung ins Wanken gerieten und eine geistige Revolution zur Folge hatte.

Neben den apokalyptischen Lamento der untergehenden Erklärungsmuster verschafften sich auch Neuerer Gehör. Namen wie Descartes, Montesquieu und Spinoza stehen für diesen Prozess. Nicht umsonst gelten sie als die geistigen Vorläufer der Moderne, die sich bei der Gründung der USA wie bei der Französischen Revolution letztendlich manifestierte.

Die Stärken in Bloms Buch sind in der Darstellung der ideengeschichtlichen Folge der kleinen Eiszeit zu finden. Der Konnex von Naturveränderung, Ökonomie und philosophischer Selbstreflexion findet den größten Raum. Damit wird der Komplexität der Wirkungsmechanismen Rechnung getragen und es wird verhindert, dass schematische Schlussfolgerungen gezogen werden könnten. Naturentwicklungen wie ein Klimawandel können einen zivilisatorischen Quantensprung zur Folge haben, müssen sie aber nicht. Phänomene wie diese können auch Kulturen in Gänze vernichten.

Ende offen …

Die Anregungen, die Philipp Blom hinsichtlich dessen liefert, womit die Menschheit in der Gegenwart konfrontiert ist, sind deshalb wertvoll, weil sie nicht der Huldigung der Ideologisierung erliegen, sondern die Möglichkeit menschengesteuerter Einflussnahme offen lassen. Das Desaster bleibt genauso eine Option wie ein zivilisatorischer Quantensprung.


Informationen zum Buch

Die Welt aus den Angeln

Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart

Philipp Blom. Die Welt aus den Angeln. (Buchcover: Hanser Verlag)

Autor: Philipp Blom
Genre: Geschichte
Sprache: Deutsch
Seiten: 304
Veröffentlichung: 2017
Verlag:  Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-25458-9


Über den Autor: Philipp Blom (Jahrgang 1970) ist Schriftsteller, Historiker, Journalist und Übersetzer. Er war als Auslandskorrespondent für Zeitungen, Zeitschriften und Radiosender tätig. Blom, der in Wien lebt, moderiert regelmäßig im österreichischen Radio-Kultursender Ö1 eine Diskussionssendung, ist Beiratsmitglied der Giordano-Bruno-Stiftung sowie Kurator im Kreisky Forum. Mehrfach wurde Philipp Blom ausgezeichnet (u.a. Friedrich-Schiedel-Literaturpreis, Gleim-Literaturpreis und NDR Kultur Sachbuchpreis).

Zu seinen veröffentlichten Büchern gehören zum Beispiel: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914 (2011) und Angelo Soliman. Ein Afrikaner in Wien (2011), Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung (2013), Die zerrissenen Jahre 1918-1938 (2014), Gefangen im Panoptikum. Reisenotizen zwischen Aufklärung und Gegenwart (2017), Was auf dem Spiel steht (2017).

Homepage: www.philipp-blom.eu


Foto: Sonja Punz (Unsplash.com) und Hanser Verlag (Buchcover)

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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Eine Antwort auf „Philipp Blom: Die Welt aus den Angeln“

Naturkatastrophen, ob “als schnelle” wie Erdbeben oder Tsunamis oder “als scheinbar langsame” wie der Klimawechsel, werden von Lebewesen unterschiedlich wahrgenommen, weil die Bezugsgrößen nicht nur die unmittelbare (Lebens-)Gefahr, die bekanntlich je Gattung unterschiedlich sein kann, sondern auch die jeweilige natürliche Lebenszeit einer Gattung ist, frei nach dem Motto “was kümmert die Eintagsfliege der nächste Monat”. Die Sesshaftigkeit des Menschens und anderer Arten bringen andere Lösungsansätze ins Spiel als etwa bei nomadisierenden Hirten und Jägern. Wenn Menschenansammlungen an strategisch interessanten Lagen zu Handels- und Verteilzentren werden, etwa von Rohstoffen, Nahrungsmitteln, handwerklich oder industriell erzeugten Produkten UND, was einige Perlen Europas betrifft, DURCH Sklavenhandel, dann entsteht dort der Reichtum einiger und soziale Unterschiede die zu den neuen, typischen Konflikten dieser Gesellschaften führen. Diese Unterschiede wurden z.T. sogar religiös gerechtfertigt…

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