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Rezension

Heldenepos: Das Nibelungenlied und die Dilemmata einer indigenen Zivilisation

“Das Nibelungenlied” in der Version von Uwe Johnson und Manfred Bierwisch kann ohne den Tribut von Blut, Schweiß und Tränen gelesen, genossen und reflektiert werden.

Alle, die es einmal in ein Seminar der germanistischen Mediävistik verschlagen hat, werden sich an die zunächst unentschlüsselbaren Texte erinnern, die von dem frühen Schriftgut der deutschen Literatur zeugen.

Und neben Autorennamen wie Walther von der Vogelweide, Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach kommen Texte wie die Merseburger Zaubersprüche und natürlich auch das Nibelungenlied zurück ins Gedächtnis.

Letzteres kann zu den großen Epen der deutschen Literatur gerechnet werden, von dem aufgrund der großen Mühe und dem damit zu erwerbenden Wissen nur wenig in die Neuzeit herüber gerettet wurde, und von dem im öffentlichen Bewusstsein nur die Mythen übrig geblieben sind, die durch Richard Wagners Ring der Nibelungen und den mythologischen Überhöhungen durch den Nationalsozialismus schillernd inszeniert wurden.

Heldenepos und deutsche Mentalität

Das Schicksal dieses Epos ist nicht nur schade, sondern es ist eine Tragödie, denn es hülfe, vieles zu erklären, wenn man sich mit dem befasst, was vielleicht – auch das im Dunst der Flüsse – am besten als so etwas wie eine deutsche Mentalität bezeichnet werden kann.


Das Nibelungenlied: Die Dilemmata einer indigenen Zivilisation (Quelle: Gerhard Mersmann/YouTube)

Umso verdienstvoller – neben den Arbeiten eines Jürgen Lodemann (Der Mord, Kriemhild) –, was der Schriftsteller Uwe Johnson zusammen mit Manfred Bierwisch leisteten, als sie das monumentale Verswerk sehr getreu zum Original in eine gut lesbare, moderne Prosa übertrugen.

“Das Nibelungenlied” in dieser Version kann heute ohne den Tribut von Blut, Schweiß und Tränen gelesen, genossen und reflektiert werden. Und allen, die sich bis heute noch nicht damit befasst haben, kann versprochen werden, dass sie eine überaus spannende und aufschlussreiche Lektüre erwartet.

Die historisch im Dunkeln gebliebene, aber in dieser Form erzählte Geschichte lässt sich in zwei große Erzählungen ordnen, in die des tragischen Scheiterns des Helden Siegfried von Xanten am burgundischen Hofe von Worms und die Kämpfe der Burgunden am Hofe des Hunnenkönigs Attila (1). Während im ersten Teil die zentralen Themen Mut, Betrug, Intrige und Treue sind, spielen diese im zweiten Teil zwar noch eine Rolle, werden aber immer wieder überstrahlt vom Sittengemälde der ritterlichen Kultur.

Die Verworrenheit, die Dilemmata, der ständige Kampf von Gut gegen Böse, das alles lässt die Assoziation zu, es hier mit einem germanischen Ramayana (2) zu tun zu haben. Auch im fernen Asien spielen diese Unauflösbarkeiten eine hervorragende Rolle. Da es sich dort und vor allem in Indien und auf der Insel Java um eine orale Erzähltradition handelt, lässt sich erklären, dass dieses Ur-Epos bis heute, wenn auch immer wieder aktualisiert, am Leben geblieben ist und einen hohen Einfluss auf den gesellschaftlichen Diskurs hat, während das Nibelungenlied die Archive schmückt. Vielleicht erklärt es auch, warum der ideologische Diebstahl durch Demagogen im kollektiven Bewusstsein so unbemerkt geschehen konnte.

Die Definition eines Ethos

Denn, soviel sei verraten, es handelt sich nicht um eine dunkle, den Blutrausch und das bornierte Heldentum verehrende Erzählung, sondern das Streben nach Vervollkommnung, die Definition eines Ethos, der das Gemeinwohl im Sinn hat, nimmt großen Raum ein und vermittelt etwas, was die indigenen Anlagen einer späteren Zivilisation erahnen lässt.

Lassen Sie sich nicht schrecken! Das Nibelungenlied in der vorliegenden Prosa-Version ist die Zeit wert!


Das Heldenepos als Buch. Das Nibelungenlied. (Buchcover: Insel Verlag)
Das Nibelungenlied. (Cover: Insel Verlag)

Das Nibelungenlied

In Prosa übertragen von Uwe Johnson und Manfred Bierwisch

Genre: Heldenepos
Sprache: Deutsch
Seiten: 263
Veröffentlichung: 16.7.2012
Verlag: Insel Verlag
ISBN: 978-3-458-36228-9


Über die Übersetzer und das Heldenepos: Manfred Bierwisch (Jahrgang 1930) ist Linguist. Er war ab den späten 1950er-Jahren Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR und ab 1992 Leiter der Max-Planck-Arbeitsgruppe ‘Strukturelle Grammatik’ sowie Professor für Linguistik an der Humboldt-Universität Berlin. Anschließend war Bierwisch Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Sekretär der Geisteswissenschaftlichen Klasse. Für sein Lebenswerk wurde er 2012 mit dem Wilhelm-von-Humboldt-Preis ausgezeichnet.


Quellen und Anmerkungen

(1) In der mittelalterlichen deutschen Literatur ist Etzel die gängige Namensform Attilas. In der germanischen Sagendichtung und im Heldenepos über die Nibelungen findet der Namen Etzel ebenfalls Anwendung.

(2) Das Ramayana ist ein indisches Nationalepos.


Fotos und Video: Judeus Samson (Unsplash.com) und Insel Verlag (Buchcover) sowie Gerhard Mersmann

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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