Aufgeregt, nein, erregt war sie, die Intensivkrankenschwester, als sie am Heiligen Abend einen Gruß über die Straße rief. Sie hatte in der Nacht zwei Mittzwanziger tot auf den Flur geschoben, wohl jene, die glaubten, das hässliche Virus träfe nur die Alten.
Orangen und Nüsse
Keine Vorstellung könne man sich davon machen, wie es zugehe beim Dienst, das nackte Elend, alle seien gestresst. In dieser Situation habe es die Leitung des Hauses noch fertiggebracht, allen zwei Orangen und fünf Nüsse zukommen zu lassen: ohne ein Wort, ohne eine Zeile. Die Hölle habe ein Gesicht, rief sie noch, und dann radelte sie fort, nach Hause, um etwas Schlaf zu finden vor der nächsten Tortur.
Währenddessen waberten die sich immer wiederholenden Nachrichten durch die Netze: von Briten, die jetzt auch noch eine Mutation des Virus zustande gebracht hätten, die wesentlich ansteckender sei. Die Meldung hat die Aura dessen, was später zu dem Namen der spanischen Grippe führte. Ressentiment als Ersatz für eigene Anstrengung und Ratio. Die Wahrheit verbirgt sich hinter einem Vorsprung Großbritanniens in der Grundlagenforschung. Auf 100.000 Virus-Analysen dort entfallen 2000 hier. Dass man dann fündiger wird, diese Erkenntnis beschert bereits die niedere Mathematik.
Politisches bis zur Unterhose
Und wieder Großbritannien. Der Brexit, so hieß es, werde jetzt doch nicht gar zu hart, sondern geregelt, weil Kompromisse gefunden worden seien. Zum Schluss kam heraus, dass die Fangquoten anderer europäischer Länder innerhalb der britischen Hoheitsgewässer jetzt doch nur um 25 Prozent reduziert wäre (1). Reiche Beute könnte man sagen, und solche Zahlen eigneten sich als ein Indiz dafür, warum die Insulaner auch mächtig Überdruss empfinden, wenn sie das Wort Europa hören.
Und dann noch die nicht enden wollende Revolverstory um den russischen Rechtspopulisten Alexei Nawalny. Er selbst, so tönte er (Sitzt er eigentlich immer noch im Schwarzwald?), habe dem russischen Geheimdienst FSB eine Falle gestellt und ein Agent habe ihm am Telefon in seiner ganzen Dummheit gestanden, Nawalnys Unterhose mit dem tödlichen Gift Nowitschok vergiftet zu haben (2).
Irgendwie, man muss sich ja bereits dafür entschuldigen, dass man noch auf die eigenen Sinne zählt, passt da einiges einfach nicht mehr zusammen. Ein Geheimdienst, dem attestiert wird, die Fähigkeit zu besitzen, selbst die elaborierten Firewalls der USA zu durchdringen und dem es selbst angeblich gelang, dort einen Präsidenten zu installieren, scheitert nun an der Unterhose eines Regimekritikers aus der russischen Provinz?
Demut!
Seltsam, sehr seltsam. Da wäre es geraten, doch etwas genauer hinzuschauen und sich die Sache einmal in aller Ruhe vor Augen zu führen. Und was macht der Chefdiplomat der Regierung? Er schlägt an wie ein von Langeweile geplagter Kettenhund. Diplomatie sieht anders aus, sie spielt auch nicht auf Twitter, sondern dort, wo man sich in die Augen schauen und bittere Wahrheiten mitteilen kann.
Das alles hat die Aura einer Komödie, allerdings mit dem Potenzial, als Tragödie enden zu können. Die verordnete Ruhe ist ein Segen, denn sie ermöglicht, vieles jenseits der Hitze des Tages noch einmal Revue passieren zu lassen und zu beobachten, wo vieles im Argen liegt. Ja, wenn es einen Rat gibt, der für einen selbst immer passt, der aber auch jenen helfen könnte, die noch nicht ganz als verlorene Seelen bezeichnet werden müssen, dann ist er in einem einzigen Wort zu finden: Demut! Sie hilft, sie lindert den Schmerz und sie bewahrt vor fatalen Fehlern.
Quellen und Anmerkungen
(1) Kleine Zeitung (25.12.2020): 10 Fragen zum Brexit: Was aus Nordirland, EU-Bürger in Großbritannien und der Sicherheit wird. Auf https://www.kleinezeitung.at/politik/eu/5915829/10-Fragen-zum-Brexit_Was-aus-Nordirland-EUBuerger-in (abgerufen am 25.12.2020).
(2) Zürichsee-Zeitung (21.12.2020): Das Gift steckte in der Unterhose. Auf https://www.zsz.ch/nawalny-russischer-spion-gibt-nowitschok-anschlag-zu-906871641898 (abgerufen am 25.12.2020).
Foto: Sei (Unsplash.com)
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.