Der zivilisatorische Fortschritt beinhaltet die Verbreitung eines Giftes. Es handelt sich dabei um das immer größere Bereiche der Gesellschaft erfassende Phänomen der Bürokratie. Sie ist notwendig, um gesellschaftliches Handeln in geordnete, überschaubare Bahnen zu bringen. Ihr Wesen ist die Konservierung des Status quo.
Die verinnerlichte Parole der Bürokratie
Die in einer Bürokratie arbeitenden Menschen haben einer Logik zu folgen, die das Bestehende nicht gefährdet. Das ist in Zeiten eines saturierten Zustandes nachvollziehbar. Aber es beinhaltet auch die gefährliche Tendenz, von allgemeinen Neuerungen überrollt zu werden.
Wenn etwas auftaucht, das nicht vorgesehen ist, wird es ignoriert oder bekämpft. Systemerhaltung und Systemerweiterung ist die verinnerlichte Parole. Die daraus folgende mentale Haltung ist die der Fehlervermeidung. Und wer Fehler vermeiden will, tut alles, um die Verantwortung für mögliche Fehler so weit wie möglich von sich zu weisen.
In Zeiten von rasenden Entwicklungen, sei es in der Technologie und der daraus resultierenden radikalen Veränderungen in Produktion und Distribution, sei es durch Krisensituationen, die alle gesellschaftlichen Bereiche erfassen, konzentriert sich die Bürokratie auf ihre Hauptaufgabe und der daraus resultierenden Maxime: Konservierung des Ist-Zustandes und Vermeidung von Fehlern. Dass der Ist-Zustand gar nicht mehr konservierbar und die Vermeidung von Fehlern in Prozessen des Erlernens von Neuem gar nicht möglich ist, kommt systemisch nicht in der Bürokratie an.
Die manifestierte Ratlosigkeit
Eine Politik, die sich mehr und mehr von ihrem eigenen Wesen, nämlich dem Entwurf von gesellschaftlichen Perspektiven und der Bereitstellung von Mitteln zu ihrer Erreichung entfernt und die sich im Laufe der Zeit zunehmend dem Wesen der Bürokratie angeglichen hat, hat den Zustand der Handlungsunfähigkeit erreicht. Die vielerorts zitierte Maxime, man fahre auf Sicht, ist alles andere als ein pragmatischer Realismus, sondern sie manifestiert die Ratlosigkeit.
Das Resultat, das momentan sehr gut beobachtet werden kann, ist eine Konversion von Bürokratie und Politik. Die Bürokratie hat schon vor langer Zeit damit begonnen, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Und die Politik ist zu einem Diskussionsforum zu bürokratischen Ausführungsbestimmungen mutiert. Systemisch bedeutet es die exklusive Verabschiedung von Strategien der Gestaltung wie Konzepten von Lösungen bestehender Probleme. Das, was sich nach einer solchen Entwicklung vor aller Augen ausbreitet, ist eine Überforderung von Politik und einer ungewollten, aber faktisch existierenden Machtstellung der Bürokratie.
Eine Bürokratie, die im politischen Sinne Dominanz erworben hat, tendiert dazu, die Gesellschaft, in deren Auftrag sie eigentlich handeln müsste, mehr und mehr als entmündigte Schutzbefohlene zu begreifen.
Wer diese These für zu gewagt hält, möge sich die Texte ansehen, die in der Bürokratie entwickelt und die an die Bürgerinnen und Bürger geschickt werden. Vom Finanzamt über die Sozialverwaltung bis zur Ordnungswesen werden die Menschen als Untergebene behandelt, von denen etwas gefordert wird oder denen allenfalls dieses oder jenes gewährt wird. Wer in seiner täglichen Korrespondenz mit Verwaltung über Schreiben verfügt, aus denen erkenntlich wird, wer tatsächlich, im politischen Sinn, Auftraggeber und wer Auftragnehmer ist, möge sich bitte melden. Es handelt sich dabei um rares Sammlergut.
Während sich das bürokratische Denken zum politischen Primat entwickelt hat, verzettelt sich die Politik im Sysiphos-Prozess bürokratischer Gesellschaftsgestaltung. Zur gleichen Zeit ändern sich alle Voraussetzungen für das bisher bekannte gesellschaftliche Handeln. Lösungen, das scheint sicher, werden nicht aus den bekannten Systemen kommen.
Foto und Video: Lucrezia Carnelos (Unsplash.com) und Gerhard Mersmann
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.