Es ist nicht nur die große Politik, die uns Beispiele für das liefert, was als der Umgang mit Niederlagen bezeichnet wird. Donald Trump zeigt, wie er damit verfährt und ein Friedrich Merz auch. Das als ausreichendes Datenmaterial für die Degeneration eines Berufsstandes zu nehmen, wäre allerdings übereilt.
Wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, dann stellen wir schnell fest, dass das Dasein von Niederlagen überschwemmt ist – das eigene wie das der anderen. Es gibt keine Ausnahmen. Und, auch dessen sollten wir uns bewusst sein, dass Niederlagen ein negatives Aroma verströmen, hat etwas mit unserem Kulturkreis zu tun, und zwar mit seiner heroischen Vorgeschichte.
Das Licht der Welt ist immer mit den Siegern? Weit gefehlt!
Kurz vor seinem gewaltsamen Tod, ohne dass es Folgen gehabt hätte, schrieb Karl Liebknecht (1) nach der Niederschlagung des sogenannten Spartakusaufstandes die klugen Worte: “Aber es gibt Niederlagen, die Siege sind; und Siege, verhängnisvoller als Niederlagen.” (2) Das war dialektisch und asiatisch zugleich, denn dort werden viele Erscheinungen des Lebens aus einem anderen, schillernderen und manchmal auch weiseren Winkel betrachtet.
Niederlagen und Erkenntnisse
Aber kommen wir zurück zu uns. Was machen wir, wenn wir uns ein Ziel gesteckt haben, gut vorbereitet sind und dann im Moment der Entscheidung feststellen müssen, dass wir selber unseren Ansprüchen in dieser Frage nicht genügen oder dass andere es einfach besser machen? Daraus ein Debakel abzuleiten, ist grundlegend falsch, auch wenn es emotional schwer zu machen ist.
Was uns in unserem gesellschaftlichen Narrativ, in dem der soziale Vergleich Siegeszüge feiert, abgeht, ist die Umdeutung der gesetzten Wertigkeit. Wenn wir, so wie wir es gelernt haben, ausschließlich nach einer erlebten Niederlage die Frage stellen, wo wir schwach waren oder was wir falsch gemacht haben, blockieren wir den Weg zu neuen Erkenntnissen.
Wenn etwas nicht erreicht wurde, heißt das auch, dass wir in der Folge etwas anders machen. Dieses Andere muss mit seinen ganzen Gestaltungspotenzialen beschrieben werden, um eine neue Perspektive attraktiv werden zu lassen. Und wenn jetzt der Vorwurf aufkommt, dieser Rat sei nichts anderes als ein verkleideter Defätismus, dann ist, bleiben wir bei Vorwürfen, dieses ein Verharren in den alten Mustern des Heroismus.
… über den Horizont zur Haltung
Niederlagen und Fehler gehören nicht nur zum Leben, sondern sie sind auch essenzielle Bestandteile eines Lernprozesses. Und die Möglichkeit zur Einsicht in eine negative Aura zu hüllen, verhindert das Fortschreiten im Prozess seiner eigenen Entwicklung und Selbstwerdung. Und auch das kennen wir: Manchmal, wenn die gefühlten Niederlagen lange genug her sind, dann kommt ein Lächeln auf unsere Lippen. Und wenn das der Fall ist, verfügen wir über ein Indiz erweiterten Horizontes.
Und trotz dieser Erkenntnis, dass Niederlagen fester Bestandteil unseres Lebens sind und sie uns nicht ultimativ grämen sollten, dürfen sie, um bei dem Begriff der Selbstwerdung zu bleiben, nicht dazu führen, dass man sich fremden Mächten, gegen die man eigentlich angetreten ist, gefügig unterwirft und sich an sie assimiliert. Da ist dann ein anderes, scharfes Urteil vonnöten, denn das ist nicht die Haltung des Lernenden, sondern das Gebaren eines Menschen ohne Haltung.
Haltung bedeutet, einen Standpunkt zu haben. Und wer einen Standpunkt hat, verfügt über einen Kompass. Siege, die aus einer Position ohne Haltung entspringen, ja, sie sind verhängnisvoller als Niederlagen. Und zwar für alle Beteiligten.
Quellen und Anmerkungen
(1) Karl Liebknecht (1871.1919) war ein Marxist und Antimilitarist zu Zeiten des Deutschen Kaiserreiches und seit 1900 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Er gehörte zum linksrevolutionären Flügel der SPD und war von 1912 bis 1916 einer ihrer Abgeordneten im Reichstag. 1916 wurde Liebknecht aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen, später wegen “Kriegsverrats” zu Zuchthaus verurteilt und erst wenige Wochen vor dem Ende des Ersten Weltkrieges freigelassen. Während der Novemberrevolution rief Liebknecht vom Berliner Schloss am 9. November 1918 die “freie sozialistische Republik Deutschland” aus. Nach der Niederschlagung des Berliner Januaraufstands, bekannt als Spartakusaufstand (dem Generalstreik und den bewaffneten Kämpfe in Berlin vom 5. bis 12. Januar 1919 im Zusammenhang mit der Novemberrevolution), wurden Karl Liebknecht und die Antimilitaristin Rosa Luxemburg von Angehörigen der Garde-Kavallerie-Schützen-Division (einem Großverband der Preußischen Armee) ermordet.
(2) Rote Fahne (15. Januar 1919): Trotz alledem! In: Karl Liebknecht, Ausgewählte Reden und Aufsätze, Berlin 1952, S. 505–520. Auf https://www.marxists.org/deutsch/archiv/liebknechtk/1919/01/trotz.htm (abgerufen am 20.1.2021).
Foto: Mike van den Bos (Unsplash.com)
… write without mercy!
Unterstütze uns jetzt mit einer freiwilligen Spende. Du hilfst uns, unabhängig zu bleiben. Jeder Cent geht ins Projekt. Mehr Infos …
Weitere kritische Essays und Artikel…
Zukunft gestalten: Es ist, wie es ist!
Wir sollten den Zeitpunkt nutzen, zu entscheiden, ob die zukünftige Geschichtsschreibung von uns als Objekten oder Subjekten berichten wird.
Die Arche: Die urdemokratische Ideenwerkstatt
“Wir spielen uns gegenseitig die Bälle zu, jeder bringt ein, was er beizutragen hat, und zusammen entsteht das Neue.”
Wo bleibt die Revolution
Egon W. Kreutzer hat in “Wo bleibt die Revolution. Die Sollbruchstelle der Macht” die aktuellen Phänomene untersucht und dabei einen Ansatz gewählt, der in Bezug auf die notwendigen Erkenntnisse Erfolg verspricht.
Revolution und Revolte – Gedanken zum Widerstand
Weltweit wird massive Kritik am neoliberalen Herrschaftssystem und den sozialen Verwerfungen geübt. Auch in Europa. Doch eine Revolution blieb bisher aus. Byung-Chul Han schrieb, dass sich (aktuell) keine Masse formen lässt, die zu einer Revolution fähig wäre. Der Philosoph Christian Ferch erkennt dennoch einen Zeitgeist, der das Menschsein eliminiert und bekämpft gehört. Als Ausweg bleibt…
Hinweis: Diese und weitere Essays, Artikel und Reportagen findest Du in unserem großen Archiv. Die Inhalte gefallen Dir? Du findest sie wichtig? Dann verbreite die Neue Debatte!
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.