Aus den unergründlichen Tiefen der menschlichen Psyche dringen nun, in einer Zeit, in der bereits vieles anders ist, als es jemals war, jene Kräfte an die Oberfläche, die Friedrich Nietzsche einmal als den Abgrund bezeichnet hat (1). Das wäre nicht sonderlich originell gewesen, hätte er nicht davon gesprochen, dass der Mensch nicht nur in den Abgrund blicke, sondern der Abgrund auch in ihn. Der Abgrund schaut auch in dich, so kommt es mir vor, wenn ich das Agieren mancher Menschen sehe, wie sie umgehen mit dem, was die Krise aus ihnen macht.
Ruhe, Muße, Reflexion und Abgrund
Deutlich wird schon jetzt, nach nicht einmal einem Jahr der temporären Einschränkungen sozialer Interaktion, dass in der Überhitzung einer auf permanentem Wachstum und Maximierung fußenden Gesellschaft eines nicht mehr zur Geltung kam, nämlich die Ruhe. Im Prozess der Erkenntnis jedoch ist Ruhe, Muße, Zeit zur Reflexion existenziell. Da man sie jedoch nicht als Massenware auf dem Markt veräußern kann, wurde sie gebannt aus der Lebenswelt der meisten Menschen.
Und so stehen sie nun da und erleben den erzwungenen Stillstand als etwas Verstörendes, ihnen den Sinn Raubendes. Die große Chance, die die Stagnation im Moment mit sich bringt, ist genau das Gegenteil. Nämlich die Rückeroberung eines nicht observierbaren Raumes, das individuelle Räsonnement über das Dasein.
Es wirkt – aus der inneren Logik der Verwertung – als subversiv. Also unterstützt es alles, was verhindert, dass es zurückkommt, und sei es auf Kosten anarchischer Destruktion.
Die Gefahr der Subversion ist nur eine Schattierung des Blickes in den und aus dem Abgrund. Eine andere Variante wird momentan zur Realität und die sollte tatsächlich besorgen. Sie ist das tödliche Gen, das in einer jeden Gesellschaft wirkt. Es ist die Identifikation mit der staatlichen Macht und, je umfänglicher sie wird, die Gier, sich an ihr zu laben und der Welt zu zeigen, dass man sie hat und mit ihr machen kann, was man will.
Es ist Zeit für Beobachtungen. Jede Ermächtigung, und sei es eine wie die jetzige, birgt das immense Risiko in sich, dass die Träger öffentlicher Funktionen im Rausch der Grenzenlosigkeit den Verstand verlieren und plötzlich meinen, sie könnten ohne Konsequenzen machen, was sie wollen. Und es gehört zu dem Trügerischen im Verhältnis zum Abgrund, dass dieser Rausch des Machtbesitzes nicht nur die Protagonisten aus der ersten Reihe ergreift, sondern immer wieder auch die kleinen Rädchen, die irgendwo nur funktionieren sollen, die im Moment abgrundtiefer Logik begreifen, dass sie mit ihrem kleinen Stempel oder in der mausgrauen Uniform die Allmacht des Staates verkörpern und im Triumphwagen durch den Alltag der Routine rollen können.
Im Rausch der Autorisierung
Und so nimmt die Unverhältnismäßigkeit ihren Lauf in Zeiten der Ermächtigung, einem Begriff, der historisch direkt aus dem Abgrund kommt und den heute viele in den Mund nehmen, als sei er ein Grundnahrungsmittel.
Wer jemandem die Macht leiht, um etwas in seinem Sinne zu tun, der kann diese Legitimation auch wieder entziehen. Diejenigen, die jetzt im Rausch der alleinigen Autorisierung zu allem unterwegs sind, haben das nicht mehr im Sinn. Dennoch wird es irgendwann politisch zur Wirkung kommen. Und da wird das Debakel dann offensichtlich. Nicht jeder, der eine politische Wirkung erzeugt, ist sich dessen bewusst. Wieder so eine Finte des Abgrunds, der allgegenwärtig ist.
Quellen und Anmerkungen
(1) Friedrich Nietzsche (1844-1900) war Philosoph, Dichter, Schriftsteller und klassischer Philologe. Mit “Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik” veröffentlichte er 1872 sein erstes größeres Werk. Eines seiner bekanntesten dichterisch-philosophischen Werk ist “Also sprach Zarathustra” (1883–1885).
Foto: Brooke Lark (Unsplash.com)
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.