Bluthochdruck, Diabetes, Arthrose, Krebs, Herzleiden, Lungenerkrankung: Es ist völlig egal, welche Krankheit einen Menschen plagt, Hauptsache, es lässt sich mit der Diagnose Geld verdienen.
Gesundheit ist zu einer Ware geworden – schon lange vor Corona. Wo ist die Ethik geblieben? Sie ist versunken im Bermudadreieck aus Optimierung, Rationalisierung und Profitmaximierung.
Welche Folgen das langfristig für die Menschen hat und wohin sich ein Gesundheitssystem bewegt, in dem jede Krankheit einen Preis hat, darüber spricht Doris Peczar bei Reiner Wein, dem politischen Podcast aus Wien.
Ethik oder Business: Gesundheit als Ware
Reiner Wein, der politische Podcast aus Wien. Gast: Doris Peczar
Die SAP-Expertin ist als Unternehmensberaterin an Klinken und Krankhäusern in Österreich tätig. Ihre wesentliche Aufgabe ist die Optimierung von Ablaufprozessen im wirtschaftlichen Bereich. Die Materialbeschaffung, der Einkauf von chirurgischen Instrumenten und Implantaten, aber auch Buchführung, Controlling, Vertrieb, Produktion, Lagerhaltung, Transport und das Personalwesen oder die Verpflegung für die Patienten, die Reinigung der Wäsche und so weiter, dies alles gehört zu den kaufmännischen Aufgaben im Großunternehmen Krankenhaus. Genau genommen besteht es aus einer Vielzahl kleinerer Unternehmungen, die wie Zahnräder einer Uhr ineinandergreifen. Aber dieses System hat Tücken.
Der Punkt als Wert
Doris Peczar erklärt zu Beginn des Gesprächs das Konzept der leistungsorientierten Krankenanstaltenfinanzierung (LFK). Das LKF-System wurde 1997 in Österreich eingeführt, um das Leistungsgeschehen in den Krankenhäusern transparent abzubilden und eine Grundlage für die Finanzierung zu schaffen. Es galt, medizinische Notwendigkeiten und ökonomische Ansprüche in Einklang zu bringen.
Das Budget, das für alle Krankenhäuser zur Verfügung steht, wird nach Punkten vergeben. Für bestimmte Diagnosen ist eine standardisierte Menge an Behandlungen und Tagesaufenthalten in der Klinik definiert. Sollte ein Patient mehr Behandlungen benötigen als vorgesehen, verliert das Krankenhaus Geld; kann er früher als erwartet nach Hause geschickt werden, bleibt mehr vom Budget übrig.
Da das Budget insgesamt aber kaum steigt, kommt es zu einem Wettbewerb unter den Krankenhäusern. Sie müssen im Laufe des Jahres immer mehr Punkte sammeln, um einen ausreichenden Anteil am Gesamtbudget zu erhalten. Dadurch verliert der einzelne Punkt an Wert.
Ethik versus Behandlungspfad und Einsparungen
Da Krankenhäuser an der Einnahmenseite wenig ändern können, versucht man zum Beispiel im Verwaltungsbereich zu sparen oder die medizinischen Verfahren effizienter zu gestalten. Letzteres führt dazu, dass der sogenannte klinische Behandlungspfad, eine Art Roadmap wie eine Behandlung abzulaufen hat, immer größere Bedeutung erhält. Es ist eine Behandlung nach Schema mit relativ wenig Spielraum.
Verlässt der Arzt den vorgegebenen Behandlungsweg, was zu Mehrkosten führen kann, die durch die Punktwerte nicht zu decken sind, muss er dies in der Regel gegenüber der kaufmännischen Leitung rechtfertigen. Kommt es wegen Komplikationen beispielsweise zu Rechtsstreitigkeiten, muss er seine Entscheidung, warum er den medizinischen Pfad verlassen hat, gegebenenfalls auch den Gerichten darlegen. Der Behandlungspfad minimiert also sein Risiko und die Verantwortlichkeit.
In der Konkurrenz aus kaufmännischen Zwängen und medizinier Notwendigkeiten wird der Patient mehr und mehr zum Objekt. Er und sein Leiden werden medizinisch beurteilt, aber auch nach Kosten und Nutzen analysiert. Damit wird er zu einer Ware.
Gesundheit und Mensch als Verrechnungseinheiten
Die Privatisierungen im Gesundheitswesen sind der große Hebel, um den letzten Cent aus dem System und den Menschen zu pressen. An Krankheiten und Gebrechen hängen Preisschilder, das medizinische Personal ist ein lästiger Kostenfaktor, jede Pille, jedes Pflaster, jeder Krümel wird auf sein Einsparpotenzial abgeklopft.
Zu allem Überfluss hält eine ausufernde Bürokratie Ärzte und medizinische Fachkräfte von ihrer eigentlichen Aufgabe ab. Die Versorgung der Patienten verkommt zur Fließbandarbeit. Alles muss schnell gehen, alles soll effizient sein. Psychosoziale Aspekte, Zuwendung, Aufmerksamkeit, Trost und Zuspruch: Dies alles fällt unter den Tisch. Der erkrankte Mensch wird reduziert zur Verrechnungseinheit. Und dann kommt Corona …
Zur Person
Doris Peczar ist Geschäftsführerin einer Beratungsagentur in Österreich. Neben einer kaufmännischen Ausbildung ist sie ausgebildet in Mediation und Konfliktmanagement. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf dem Gesundheitswesen, der Organisationsentwicklung in Krankenkenhäusern und auf der Optmierung der dortigen Ablaufprozesse im wirtschaftlichen Bereich.
Fotos, Audio und Video: Owen Beard (Unsplash.com), Reiner Wein und Idealism Prevails.
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Eine Antwort auf „Ethik oder Business: Gesundheit als Ware“
Das Problem beginnt ja schon damit, den Patienten als Kostenfaktor zu betrachten. Wofür braucht es dann noch Krankenkassen und weshalb zahlt man Beiträge? Und ist Arzt dann nicht vielmehr als nur ein Geschäftsmann?
Ein sehr aufschlussreiches Gespräch, das meine Ansichten und auch Erfahrungen in fast allen Punkten bestätigt, wobei das deutsche sich vom österreichischen System nur marginal unterscheiden wird. Unterm Strich dienen beide Systeme der Profitmaximierung, wobei der Patient als Mensch auf der Strecke bleibt.
Bemerkenswert, dass zwar immer mehr öffentlich kommuniziert wird, dass trotz Corona keine Überlastung der Gesundheitssysteme, auch in Österreich existieren, diese Erkenntnis, aber anscheinend weder in der Politik, noch in großen Teilen der Bevölkerung angekommen ist. Denn dann müssten ja umgehend rechtliche Konsequenzen folgen. Ob politisch bewusst gewollt, sei mal dahin gestellt.
Bemerkenswert auch die Äußerung von Frau Peczar bezüglich Chemotherapien, dass sie kaum helfen und eher schädlich sind. Aber auch das ist längst bekannt, wie nicht nur durch die von ihr angesprochene Studie beweist, wird durch Alternativen kein Geld verdient.
Ein gewisses Geschmäckle kommt da schon auf, ob es wirklich noch um die Heilung des Patienten geht, oder eher um eine Plünderung bis in den Tod?
Als Résumé entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Frau Peczar die Missstände durchaus bekannt sind, aber sie sich selbst nicht als Zahnrädchen in diesem inhumanen System erkennt. SAP eine börsennotierte Softwareschmiede, um Firmen betriebswirtschaftlich und rentabel zu optimieren ist bestimmt nicht als Ursache anzusehen, die ist immer noch die Gier des Menschen, aber welche Auswüchse es hervorbringt, auch hinsichtlich kognitiver Dissonanz bezüglich Ursache und Wirkung, kann man nicht nur in diesem Interview wunderbar verfolgen.