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Rezension

Benito Mussolini als Blaupause

Anfang der 1920er-Jahre greift Benito Mussolini in Italien nach der Macht. Psychosozial setzt er auf den Hebel, Angst in Hass zu verwandeln.

In der Werbung wurde davon gesprochen, dass Antonio Scuratis Roman “M. Der Sohn des Jahrhunderts” das Buch sei, auf das Italien lange gewartet habe. Das mag so sein; aufgrund der historischen Brisanz und der brennenden Aktualität durch aktuelle politische Ereignisse in vielen Ländern dieser Welt hat die Periode von 1921 bis 1924, der Zeit der Machtergreifung durch Benito Mussolini und des Faschismus in Italien auch woanders diese Wertigkeit verdient. Denn die Zeit, die Scurati in seinem Buch der Leserschaft noch einmal vor Augen führt, weist viele Deckungsmengen zu den aktuellen Verhältnissen auf.

Die Figur Benito Mussolini

Geschichte wiederholt sich nicht. Aber in der Geschichte existieren immer wiederkehrende Muster, aus denen man sehr gut für die Gegenwart und Zukunft lesen kann. Da ist zum einen eine Instabilität des existierenden politischen Systems, das den Anforderungen der Zeit nicht mehr gerecht wird.


Antonio Scurati, M. Der Sohn des Jahrhunderts (Quelle: Gerhard Mermsann/YouTube)

Da herrschen Unzufriedenheit und Existenzängste, da werden große Ansprüche formuliert, denen niemand mehr gerecht wird, und da tauchen Figuren auf, die die fragile Situation wittern und selbst durch Charisma, Rhetorik und taktische Finesse ihren eigenen Wunsch nach der Erringung der absoluten Macht in greifbarer Nähe sehen.

Benito Mussolini war eine solche Figur, die sich weder um Traditionen noch um einen zivilisatorischen Ethos scherte, sondern, geleitet von Allmachtsfantasien, sich mit den skrupellosesten und abgehängtesten Elementen der Gesellschaft zusammentat, um seinem Ziel näher zu kommen.

Stereotype, die sich historisch ebenfalls immer wiederholten, wie die Spaltung der Demokraten und die Finanzierung von Kriminellen durch die wirtschaftlich Mächtigsten begünstigten nicht nur den Aufstieg dieses Maniacs, sondern sie ermöglichten ihn erst. Auch dazu liefert das Buch tiefe Einblicke. Während der Name Mussolini in den historischen Annalen seine Brandmarkung bereits erfahren hat, sind die von Pirelli und Agnelli nach wie vor in der Geschäftswelt als einflussreiche Kräfte präsent.

Unterschiedliche Blickwinkel

Scurati erzählt die Geschichte dieser bedeutsamen Jahre multiperspektivisch. Die Leserschaft sieht verschiedene Blickwinkel; selbstverständlich den Mussolinis, aber auch den so bedeutsamer Politiker wie Turati und Matteotti und sie lernt etwas über die Denkwiese der letzten Repräsentanten des untergehenden Staates wie des fatal agierenden Königs und der letzten Staatspräsidenten.


Benito Mussolini auf einer Aufnahme der Schweizer Polizei, 1903. (Foto: Gemeinfrei)
Benito Mussolini 1903 auf einer Aufnahme der Schweizer Polizei. Es handelt sich um ein Foto des späteren italienischen Faschistenführers, aufgenommen nach seiner Verhaftung wegen fehlender Ausweispapiere. (Foto: Gemeinfrei)

Unterbrochen wird die vielschichtige Erzählung durch Sequenzen aus der zeitgenössischen Berichterstattung, von den Organen des Faschismus, heute noch existierender bürgerlicher Zeitungen wie auch der sozialistischen und kommunistischen Presse.

Psychosozial setzte Mussolini auf den Hebel, Angst in Hass zu verwandeln. Der markante Satz aus Scuratis Roman bringt es exakt auf den Punkt:

“An der Wertpapierbörse der Habenichts wird jetzt das Schwermetall Angst gegen die hoch im Kurs stehende Währung tödlicher Hass getauscht.”

Eine Feststellung, die bei der Analyse gegenwärtiger Verhältnisse ein durchaus erschreckender wie wertvoller Hinweis ist.

Die Blaupause des Faschismus

Die Figur des Mussolini wird durchleuchtet, und anhand seiner Handlungsweisen und der sie unterlegenden Räsonnements entsteht das Psychogramm eines auf die absolute Macht fokussierten Verbrechers, dem kein Mittel und natürlich auch nicht der massenhafte Mord zuwider ist und der sich lustig macht über die Loyalität der politischen Konkurrenz zu dem bestehenden politischen System.

So mutiert Benito Mussolini in diesem Werk zu einer Blaupause für den faschistischen Rigorismus, der auch ohne das Emblem des Faschismus bis in die heutigen Tage fortlebt. Weder Ethos noch Rationalität oder Loyalität gegenüber Prinzipien sind solchen Figuren gewachsen.

Die Conclusio ist ohrenbetäubend!


Informationen zum Buch

M. Der Sohn des Jahrhunderts

Originaltitel: M. Il figlio del secolo

Autor: Antonio Scurati
Genre: Roman
Sprache: Deutsch
Seiten: 830
Veröffentlichung: 2020 (3. Auflage)
Verlag: Klett-Cotta
ISBN: 978-3-608-98567-2


Fotos und Video: AVW (Unsplash.com), Polizei Kanton Bern und Gerhard Mersmann

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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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