Manchmal ist es sinnvoll, in den eigenen Erinnerungen zu wühlen und sich an Gegebenheiten zu erinnern, die entscheidend in der eigenen Biografie waren. So kam mir vor Kurzem im Zusammenhang mit vielem, was sich heute ereignet, ein früherer Chef von mir in den Sinn.
Als er neu in meine damalige Organisation kam, stellte sich sehr schnell heraus, dass er ein sehr burschikoser, teilweise ungeduldiger Mensch war, der unverblümt allen sagte, was er von ihnen verlangte. Das an sich war okay.
Was störte, war seine Angewohnheit, denjenigen, mit denen er unzufrieden war, das Leben zur Hölle machen zu können. Und es fiel auf, dass er allen, die seine Ungeduld und teilweise sich als Herrschsucht herausstellende Art widerspruchslos hinnahmen, noch mehr traktierte und schikanierte.
Gegen das Elend der Unterwerfung
Das schmeckte niemandem. Da ich es mir zur Angewohnheit gemacht hatte, darauf zu achten, wie es um meine Selbstachtung bestellt war, zog ich aus seinem Verhalten meine Lehre. Als er mich in einer bestimmten Situation aufs Korn nahm, stellte ich die Nackenhaare und ging mit ihm in den Clinch. Ich ließ unberechtigte Kritik nicht auf mir sitzen und signalisierte ihm, dass er so mit mir nicht verfahren konnte. Nach einer Phase des Schweigens und Ignorierens geschah dann etwas, womit ich nicht gerechnet hatte und was mich überraschte.
Plötzlich tauchte eben dieser Chef bei mir auf und gab mir Aufträge, die durchaus als anspruchsvoll und prekär betrachtet werden konnten. Ich nahm sie an, obwohl ich ein gewisses Misstrauen verspürte und wunderte mich immer mehr.
Er signalisierte mir großes Vertrauen. Und als ich mit Ergebnissen aufwartete, die sich sehen lassen konnten, entwickelte sich ein überaus stabiles Vertrauensverhältnis, das bis zum Ende unserer Zusammenarbeit andauerte. Im Verhältnis zu jenen, die er schlecht behandelte, änderte das nichts. Und die, die sich nicht wehrten, hatten keine gute Zeit. Er und ich jedoch blieben noch viele Jahre verbunden und wir trafen uns immer einmal wieder, um uns auszutauschen.
Die Notwendigkeit des Widerspruchs
Die Moral dieser Geschichte war für mich eine persönliche. Sie zeigte mir, dass es sich lohnt, sich nicht ungerecht behandeln zu lassen und dass es dazu führen kann, nicht nur die Selbstachtung zu wahren, sondern mit etwas Glück auch die Achtung derer zu gelangen, die vorher etwas anderes im Sinn hatten. Was das Psychogramm des ehemaligen Chefs anbetraf, so kann davon ausgegangen werden, dass er unterwürfige Menschen nicht achtete.
Es ist davon auszugehen, dass diese Konstellationen durchaus verbreitet sind. Da gibt es Menschen, die Macht besitzen und diese nutzen, auch im unzivilisierten Sinne, wenn sie keinen Widerstand verspüren. Dass sie sich aber zweimal überlegen, so weiter zu verfahren, wenn sie merken, dass es auch für sie ungemütlich werden kann.
Und dann gibt es Menschen, die die zweite Option nach der bedingungslosen Unterwerfung erst dann zu Gesicht bekommen, wenn sie es gewagt haben, sich zur Wehr zu setzen. Das praktische Beispiel ist die Grundlage der Erkenntnis. Die theoretische Vermittlung, dass die Zeiten besser werden, wenn man sich wehrt, führt zu nichts, wenn man es nicht wagt. Das ist einfach und plausibel. Und erst zu vermitteln, wenn es stattfindet. In der existenziell virtuellen Dimension, in der wir uns bewegen, wird die unmittelbare Erfahrung zu einem unschätzbaren Gut. Auch was den Widerstand betrifft.
Quellen und Anmerkungen
(1) Die Psychologie versteht unter dem Begriff Selbstachtung (oder auch: Selbstwert, Selbstwertgefühl, Selbstwertschätzung) die Bewertung, die ein Subjekt an sich selbst vorgenommen hat. Die Begriffe werden wenig trennscharf verwendet, wobei Selbstvertrauen (oder Selbstsicherheit) sich auf die Kompetenzüberzeugungen, also die Fähigkeiten des Individuums, bezieht und als Teilkomponente des Selbstwertes verstanden werden kann. Dieser kann sich darüber hinaus auf Eigenschaften beziehen, die nichts mit Kompetenzen zu tun haben.
Die Selbstachtung bezeihungsweise der Selbstwert könnte sich beispielsweise auf die Persönlichkeit und die Erinnerungen an die Vergangenheit und das Ich-Empfinden oder auf das Selbstempfinden beziehen.
Auf das Selbstvertrauen wird in der Verhaltenstherapie vor allem unter dem Begriff Selbstwirksamkeitserwartung Bezug genommen. Sowohl ein gesteigertes als auch ein geringes Selbstwertgefühl (Insuffizienzgefühl) kann ein Symptom einer psychischen Störung sein. Dabei wird nicht nur unterschieden, ob der Selbstwert einer Person hoch oder niedrig ist, sondern ob er stabil oder instabil ist, kontingent oder nicht-kontingent, explizit (bewusst kognitiv) oder implizit (unbewusst affektiv erfahrungsbedingt), sicher oder fragil.
Foto: Brett Jordan (Unsplash.com)
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Das Elend mit der Unterwerfung“
Vielen Dank für das vielsagende persönliche Beispiel !
Unterwerfung – und das war mir als Kind GEFÜHLT klar – ist die Option der Optionslosigkeit.
Es bedeutet, daß ich auf die eigenen Potenziale und die Optionen, die sich daraus für mich und für andere positiv ergeben, verzichte. Die Welt wird so für alle ärmer.
Das eigene Gesicht nicht zeigen (die vorgesetzte Maskerade bedienen) führt zum Verlust der Individualität und damit zum Verlust des Menschen und der Menschlichkeit selbst.
Eine Notwendigkeit des Widerspruchs sehe ich allerdings überhaupt nicht – ich sehe nur die Notwendigkeit der Abgrenzung von Eigen und Fremd. Wenn ich das nicht kann oder dazu zu feige bin, gehe ich fremd – Jesus spricht von den “Lauwarmen” bzw. lebenden Toten …
Das entscheidet jeder selbst – beim Thema Maske würde es ja schon helfen, wenn man dann eine anzieht, wenigsten das rote Kreuz als Erkennungsmerkmal für “bin nicht einverstanden” drauf zu haben. Aber auch das habe ich – trotzdem es vielfach als Option im Netzt bekannt gemacht worden ist – noch nie bei einem Maskenträger gesehen …
Eigensein und Solidarität geht anders als entindividualisierende Maskerade …