Als 1664/65 in seiner Heimatstadt London die Pest wütete, war Daniel Defoe – in unseren Breitengraden leider nur durch seinen zur Weltliteratur gehörenden Roman Robinson Crusoe bekannt – gerade einmal vier Jahre alt. Dennoch hat ihn das Thema zeit seines Lebens beschäftigt.
Erst im Alter von 61 Jahren, 1722, hat er sich daran gemacht, ein Buch darüber zu schreiben. Unter dem nüchternen Titel “Die Pest zu London” wurde es veröffentlicht. Aufgrund der Aktualität des Themas sollte das Werk aus den Archiven geholt und gelesen werden. Es lohnt sich.
Zunächst ein in guter Manier verfasster, auf Daten, Fakten und Zahlen beruhender Bericht, mutiert die Schrift immer mehr zu einer Erzählung eines fiktiven Protagonisten, der aus seinen konkreten Erfahrungen schöpft, der Geschichten erzählt und der die Geschehnisse bewertet.
Die Story der Pest zu London
Zunächst beschreibt Defoe den Ausbruch der Pandemie, die Sterblichkeitszahlen in den einzelnen Kirchendistrikten der Stadt und die ersten Reaktionen der Bevölkerung wie der Verwaltung darauf. Die Wohlhabenden entschieden sich in der Regel zur Flucht, sodass in den Reichenvierteln viele Häuser leer standen. Der Königshof floh nach Oxford, was der Erzähler als einen Segen bezeichnet, während die Bedürftigen in der Stadt bleiben mussten und der Pest schutzlos ausgeliefert waren.
Dann kamen die Welterklärer und Auguren zum Vorschein, die, waren sie aus dem religiösen Lager, die Seuche als eine Strafe Gottes beschrieben oder es waren andere, die die wildesten Theorien verbreiteten, um das Elend zu erklären. In zeitlichem Schlepptau folgten die Quacksalber und Scharlatane, die ein Geschäft aus dem Elend machten und alle möglichen Mittel und Arzneien verkauften, die angeblich dazu geeignet waren, um sich gegen die Pest zu schützen. Helfen tat beides nicht.
Die Verwaltung verhängte eine Reihe von Maßnahmen, die teilweise Wirkung zeigten. Der Lord Mayor beschloss eine Zwangsquarantäne für Häuser, in denen Infizierte wohnten, selbst wenn dort auch noch Menschen waren, die noch nicht infiziert waren.
Vor die Häuser wurden Wächter gestellt, um den Internierten die Flucht zu verwehren, was allerdings immer noch einigen gelang, mit fatalen Folgen hinsichtlich der weiteren Ausbreitung. Verendete auf den Straßen wurden beiseitegeschafft und in der folgenden Nacht in Massengräbern verscharrt. Medizinisches Personal wurde in die Bezirke geschickt, Pflegepersonal aus der Bürgerschaft rekrutiert. Für die Kritik am Verwaltungshandeln war aufgrund der rasenden Entwicklung weder Zeit noch existierten Medien, die eine virtuelle Gegenwelt möglich gemacht hätten.
Kein Change nach der Katastrophe
Die Schrecknisse, die insgesamt bei der damaligen Größe von London mit immensen 100.000 Toten zu Buche schlugen, sind in einer unter die Haut gehenden Nüchternheit beschrieben. Aber auch der Einfallsreichtum der Menschen, wie sie sich gegenseitig halfen, welche Regeln sie entwickelten und wie sie mit den Zuständen umgingen.
Der wirtschaftliche Ruin war immens. Nahezu alle Kleingewerbe und Handelsbetriebe gingen unter. Als die Sterblichkeitsziffern sanken – und das sollten wir uns merken –, ignorierten die Menschen in ihrer großen Mehrheit die immer noch existierenden Gefahren und verfielen in ihren alten Lebensrhythmus, als sei nichts geschehen. Das war allerdings weniger der kognitiven Ignoranz geschuldet, sondern der Notwendigkeit, ihren Lebensunterhalt von neuem zu sichern. Zudem war die Abstinenz von kulturellem Zusammenleben gravierender vermisst worden, als aus technokratischer Sicht angenommen.
Dennoch: Als die Katastrophe vorbei war, ging das Leben weiter wie zuvor. Nicht jeder gravierende Einschnitt führt zu einem Change.
Foto: Sven Brandsma (Unsplash.com)
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.