Im Jahre 1602 gründeten Kaufleute in den Niederlanden die Vereenigde Oostinsche Compagnie (VOC), um die gegenseitige Konkurrenz im Überseehandel auszuschalten und die Kräfte zu konzentrieren.
An der Amsterdamer Börse waren mächtige Versicherungsgemeinschaften entstanden, die die Risiken bei der Ausbeutung einer neuen, in Asien gelegenen Welt minimieren sollten.
Gewürze waren die neue Währung, sie inspirierten zu verwegenen Entdeckungsreisen, wie der Portugiese Magellan sie unternommen hatte oder sie führten zu staatlichen Handelsmonopolen, wie sie die VOC eingeräumt bekam. Muskat war mehr Wert als Gold, es ging darum, die Hegemonie im Gewürz- und damit im Welthandel zu bekommen.
Das Ketchup-Prinzip
Die neuen Areale, in denen die neuen Währungen zu finden waren, trugen Namen wie Java und Sumatra, Borneo und Ambon. Dort, wo die Niederländer ihr Domizil errichteten, in Batavia, dem heutigen Jakarta, herrschten lokale Könige, die man vor die Wahl stellte, zu kooperieren oder zu fallen.
Es entstand das bis heute lähmende Ketchup-Prinzip: Die Kolonisatoren verlangten von den lokalen Herrschern bestimmte Mengen an Produkten und konzedierten ihnen, egal wie viel sie aus den Produzenten herauspressten, sie könnten den Rest, der über die erwartete Menge hinausging, für sich behalten. Und so setzte sich dieses Prinzip in der Hierarchie fort, bis auf die unterste Stufe.
Die Vereinigte Ostindische Kompanie hielt sich von 1602 bis zu ihrer Liquidierung im Jahr 1798 über zwei Jahrhunderte. Sie häufte unbeschreibliche Reichtümer an, sie bescherte den Niederlanden die herausragende Rolle im Welthandel und sie ging sang- und klanglos unter.
Untergang durch Korruption
Der Kolonialismus blieb, aber die VOC segnete das Zeitliche. Warum? Die Niederländer, immer zu geistreichen, selbstironischen Bemerkungen fähig, verwendeten das Kürzel der einst mächtigen Handelsgesellschaft neu: vergaan onder corruptie, Untergang durch Korruption.
Denn das System, mit dem sie groß geworden war, mit dem sie die Kolonien ausgebeutet hatten, das hatte sich in die eigene Organisation geschlichen, war immer verbreiteter gewesen und irgendwann hieß es, wenn genötigt und bestochen wurde, das seien die üblichen Geschäftsgebaren.
Der Niederländer Eduard Douwes Dekker, der in dem System unterwegs war, verfasste Jahrzehnte nachdem die VOC bereits Geschichte war, ein Buch, das das System zusammenfasste wie keines zuvor.
Und das ganz nebenbei von den heutigen Niederlanden als das bedeutendste der eigenen Geschichte gewürdigt wird. Es hatte den trockenen Titel “Max Havelaar oder die Kaffeeversteigerungen der Niederländischen Handels-Gesellschaft” (1). Der Autor, der um sein Leben fürchtete, verbarg sich hinter einem Pseudonym: Multatuli, ich habe viel gelitten.
Nicht nur in den Niederlanden erregte das Buch großes Aufsehen. Auch dort, wo die Menschen nicht viel mehr verband als eine dreihundertjährige Kolonialgeschichte, von Sumatra bis Ambon, regte sich nicht nur erneut Widerstand, sondern es entstanden die ersten Konzepte einer neuen Nation, dem heutigen Indonesien. Aber das ist eine andere Geschichte.
Das schleichende Gift
Die Moral von dieser Geschichte, der der Vereinigten Ostindischen Kompanie, ist einfach zusammenzufassen: Selbst die florierensten Organisationen sind dazu in der Lage, sich selbst nachhaltig zu schaden und existenziell zu gefährden, wenn sie es zulassen, dass das schleichende Gift der Bestechlichkeit zunächst eintritt, dann bagatellisiert wird und sich schließlich zu einer allgemein akzeptierten Währung mausert, die dazu führt, dass zum Schluss nichts weiter übrig bleibt, als das ganze Unternehmen zu liquidieren.
Quellen und Anmerkungen
(1) Eduard Douwes Dekker (1820-1887) war ein Schriftsteller aus den Niederlanden, der unter dem Pseudonym Multatuli (vom lat. multa tulī; “Ich habe viel gelitten”) bekannt wurde. Die Gesellschaft für niederländische Literaturwissenschaft erklärte seinen 1860 veröffentlichten Roman “Max Havelaar oder die Kaffeeversteigerungen der Niederländischen Handels-Gesellschaft” im Jahr 2002 zum wichtigsten in niederländischer Sprache geschriebenen Werk. Das autobiografische Buch dreht sich um den Kolonialbeamten Max Havelaar. Er verrichtet seinen Dienst auf Java in Niederländisch-Indien. Seine Laufbahn endet, als er Korruption, Bestechlichkeit und andere Verfehlungen seiner Vorgesetzten aufdeckt. Damit wird das gesamte Kolonialsystem infrage gestellt.
Foto und Video: Tamanna Rumee (Unsplash.com) und Gerhard Mersmann
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.