Wer früh aufsteht, so besagt ein jüdisches Sprichwort, dem gehört die Welt. Für einen Augenblick jedenfalls kann man den Eindruck gewinnen. Gestern Morgen, als die Sonne aufging, war so ein Moment.
Ihre medialen Bomben
Goldenes Licht, transportiert von einem eisigen, aus Osten kommenden Wind. Alles leuchtete. Der Fluss lag blau und stählern im satten Grün der Wiesen und die wenigen Menschen, die zu sehen waren, schienen das alles gleichermaßen zu genießen. Alles wirkte, als lebten wir in einer unbeschwerten Zeit, in der das pure, schlichte und bescheidene Dasein kein Accessoire mehr brauchte, um glücklich zu machen.
Das, was in diesen Zeilen zum Ausdruck kommt, ist das Abfallen einer ungeheuren Last, die das menschliche Empfinden immer mehr auf den Boden drückt. In diesen Sekunden, an einem Tag, wo alles still steht und die digitale Maschinerie noch nicht das Individuum erreicht hat, weil es sich ihr entzog und raus ging in die urbane Natur, um die Entstehung des Tages zu beobachten und zu sehen, wie ihr vereinzelt andere Individuen beiwohnten.
Man nickte sich zu: Gut gelaunt, glücklich ob der Stille und ging räsonierend seiner Wege.
Der Abend, der vor den Tagen, an denen wieder einmal davor gewarnt wurde, sich mit anderen gemeinzumachen, an denen Stille, Besinnlichkeit oder auch ein kulturelles Erlebnis angebracht gewesen wäre, schlugen sie erneut zu, die medialen Bomben, die das alte Lied von Corona hier und Corona da wieder sangen, ohne den pädagogischen Auftrag zu vergessen.
Gegen diese Art von Pädagogik, die eher den Namen der Infiltration verdient, hatten bereits Generationen erfolgreich protestiert, ehe Teile von ihnen selbst ans Ruder kamen, um den gleichen Fehler zu machen und es zuweilen noch schlimmer zu treiben.
Ihre Fehleinschätzung
Es ist nicht nur der Wille und die Fähigkeit zum Recherchieren, zum Schreiben, zum Analysieren, was dem Kommunikationspol abhandengekommen ist, sondern auch das Wissen um Aufmerksamkeitskurven. Wer immer das Gleiche zu verschiedenen Anlässen von sich gibt, langweilt das Publikum sehr schnell.
Zudem spricht aus dem Versuch, immer wieder den Menschen zu erklären, wie sie sich zu verhalten haben, die Unterschätzung der noch vorhandenen Potenziale der Selbstreflexion und des eigenen Urteils. Gespeist wird diese Fehleinschätzung von einem auf ungefähr acht Prozent der Bevölkerung geschätzte Schicht, die in finanziell gesicherten Verhältnissen lebt, über eine gewisse institutionelle Bildung verfügt und den Katalog für das allseits verlangte korrekte menschliche Verhalten geschrieben hat.
Diese Schicht, die sich selbst als geistige Elite wähnt, im Dogmatismus gestählt ist und in puncto Intoleranz ein neues Kapitel der Geschichte schreibt, wähnt sich kurz vor der Machtergreifung – durch ganz legale Wahlen, versteht sich.
Der Blickwinkel
Wer den Weisungen dieses Milieus folgt, wähnt sich auf der guten Seite und sieht wohl auch eine glänzende Zukunft vor sich. Das Problem ist nur, dass die Entwicklung auf dem Globus in eine völlig andere Richtung deutet und das Denken und Fühlen in der eigenen Bevölkerung sich verwandelt hat von rudimentärer Sympathie zu Zorn.
Die Demokratie ist auf dem Vormarsch. Das merken Sektierer – denn um die handelt es sich bei den selbst erkorenen Auserwählten – selber nicht und ihre Gefolgsleute zumeist erst, wenn es zu spät ist.
Im Licht der Morgensonne sieht die Lage glänzend und vielversprechend aus. Und irgendwie kann der Eindruck entstehen, als hätten die Anderen, die auch daherkommen, gleiche Gedanken. Denn es war ja immer so: Der Dunkelheit folgt das Licht.
Foto: Dainis Graveris (Unsplash.com)
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Weltanschauungen und der Kampf ums Dasein
Der Zusammenhalt aller historischen Lebensgemeinschaften wurde und wird durch gemeinsame Überzeugungen hergestellt. Menschen in gleichen sozialen Lebensverhältnissen entwickeln auch passende kollektive Weltanschauungen, die ihre Gemeinschaften rechtfertigen und ihre sozialen Verhältnisse stabilisieren. Damit reduzieren sich die in der Geschichte zu registrierenden Ideologien auf ein für den Kulturforscher überschaubares Maß.
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.