Dank seines Wissens und Könnens und seiner methodischen Fähigkeiten ist der Mensch in der Lage und in der Pflicht, zielorientiert und gestalterisch, also auf Inhalte wirkend, die Welt bewusst zu verändern. Über Ziel, Inhalt und Methode seines Vorgehens muss er nachdenken, wenn er seinem Wollen entsprechend sinnvoll handeln will.
In der Philosophie ist Inhalt eine Kategorie. Sie besagt, dass alle Gegenstände und Systeme, also alles materiell Manifeste, eine Gesamtheit von Elementen, Prozessen und Eigenschaften bildet, die in Wechselbeziehungen miteinander stehen und ihre Organisation (zu einem qualitativ und quantitativ bestimmten Gegenstand) durch die Form erhalten.
Bewusst wird dem einzelnen Menschen stets nur sein subjektives Selbst, das die objektive Realität, in der er lebt, als sein Bewusstsein reflektiert. Er erkennt seine natürlichen, psychischen und sozialen Wesenszüge und wird so befähigt, seinem eigenen Ich im Beziehungsgefüge der objektiven Wirklichkeit und somit der „ganzen Wahrheit“ näher zu kommen.
Am Anfang die Endlichkeit
Die Natürlichkeit seiner psychischen und sozialen Wesenheiten kann der Mensch selbsterhaltend beeinflussen, seine Endlichkeit hinauszögern, überwinden kann er sie aber nicht. Der Tod setzt den Schlussakkord: Das ist die feste Regel im Leben. Und auch wenn im Tod Leben zu finden ist, so ist dies nicht gleichbedeutend mit Leben, sondern die Hinauszögerung des Ablebens, die Verschiebung des finalen Termins auf einen späteren Zeitpunkt.
Auch wenn heutzutage schon im Voraus eine eventuelle Organspende bekundet werden kann, scheint die Tatsache, ein Organ eingepflanzt zu bekommen, das einem verstorbenen Spender zu Lebzeiten das Dasein ermöglichte, eine hohe Belastung für die Psyche zu sein. Und wer vermag schon eindeutig einer absoluten Gerechtigkeit zuzuordnen, ob ein menschliches Leben mit noch zu gebrauchenden Teilen eines nicht mehr Lebenden fortgesetzt werden sollte oder darf?
Es sind Kernfragen, die die Ethik allgemein und das Selbst speziell berühren. Das Sein vom Endpunkt gedacht, darin liegt mehr Potenzial als gemeinhin erwartet.
Der südafrikanische Herzchirurg Christiaan Barnard verwirklichte am 3. Dezember 1967 in Kapstadt seinen persönlichen und einen medizinischen Traum: Unterstützt von einem Ärzteteam verpflanzte er in einem kühnen Versuch dem schwerkranken Gemüsehändler Louis Washkansky das Herz von Denise Ann Darvall. Die junge Frau hatte bei einem Verkehrsunfall Kopfverletzungen erlitten. Der Hirntod, der unumkehrbare Hirnfunktionsausfall wurde festgestellt. Ihr Vater gab die Einwilligung zur Organspende. Der Eingriff gelang, der ‘finale Termin’ Washkanskys wurde aber lediglich verlegt. Er starb 18 Tage später an einer Lungenentzündung (1).
Dennoch war die Transplantation ein Durchbruch in der Medizin. Barnard, der seine Berufung gefunden und seinen Weg gegangen war, wurde zum Medienstar. Die Namen Darvall und Washkanskys wurden in zahllosen Büchern, Reportagen und Publikationen verewigt. In der Gegenwart gehören Organtransplantationen in der ganzen Welt zum chirurgischen Alltag.
Mandelas Methodik
Barnard, der im von Apartheid geprägten Südafrika seinen Weg gefunden hatte, kannte Ausgrenzung, Armut, Entbehrung und Hinfälligkeit. Vielleicht liebte er deshalb die schönen Seiten des Daseins, das Blitzlichtgewitter, die Aufmerksamkeit der medialen Welt und das Leben, unabhängig von der Farbe der Haut: Unter dem Funktionsorgan sind schließlich alle Menschen gleich. Größtmögliche Gerechtigkeit für alle gilt es deshalb in Umwälzungsprozessen anzustreben. Eingebunden in das historische Geschehen des 20. Jahrhunderts kam es in Südafrika unter anderem durch das Wirken von Nelson Mandela zu einem gesellschaftlichen Aufbruch (2).
Mandela bekam als junger Mann, der in Johannesburg unter ärmlichen Bedingungen lebte und 1944 der Widerstandsorganisation African National Congress (ANC) beitrat, die Möglichkeit, Jura zu studieren. Er engagierte sich für die Rechte der schwarzen Bevölkerung, die vom Apartheidsregime ausgebeutet und unterdrückt wurde und eröffnete 1952 die erste von einem Schwarzen betriebene Anwaltskanzlei in Südafrika.
Gewaltlosigkeit sah er als taktisches Mittel im Kampf gegen die Apartheid an, nicht aber als Grundsätzlichkeit. Sein Lebensweg erhielt dadurch eine weitere Prägung.
Nach dem Massaker von Sharpeville, einem etwa 50 Kilometer südlich von Johannesburg gelegen Township, bei dem Polizisten über 60 unbewaffnete Demonstranten töteten, und dem kurz darauf ergehenden Verbots des ANC, übernahm Mandela 1961 die Führung einer militanten Untergrundorganisation. Im Juni 1964 erhielt er wegen Sabotage und Planung des bewaffneten Kampfes eine lebenslange Haftstrafe. Über seine Frau Winnie Madikizela konnte er den Kontakt zur Außenwelt aufrechterhalten. Am 17. Februar 1990 wurde Mandela aus der Haft entlassen.
Mandelas Methodik bestand aus Kampf, Kommunikation und Kompromiss, mit denen er beharrlich, duldsam und vertrauensvoll auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Südafrika einwirkte. Die Abschaffung der Apartheid, Freiheit und der Aufbau demokratischer Verhältnisse für Weiße und Schwarze waren seine Ziele. Dies unterstrich er durch den Willen zur Aussöhnung.
Der lange Weg
Besonders in der Zeit des Umbruchs, der von der Rassendiskriminierung zum demokratischeren Staat führte, zeigten sich Mandelas persönliche Qualitäten, insbesondere die Versöhnung als gelebte Methodik. Die Ausgangslage war schlecht. Die soziale Ungleichheit und wirtschaftlicher Niedergang hatten ihre Spuren hinterlassen.
Anfang der 1990er-Jahre lag die Arbeitslosenquote in Südafrika bei 20 %. Mehr als 40 % der Bevölkerung lebten am Rande oder unterhalb der Armutsgrenze. Durch die verhängten Wirtschaftssanktionen und den Rückgang der Produktion bei den wichtigsten Exportgütern, war Präsident Frederik Willem de Klerk (3) auch aus ökonomischen Gründen gezwungen, das Ende der Apartheid durch die Aufhebung von Gesetzen, die die schwarze Bevölkerungsmehrheit (rund 70 %) diskriminierten, herbeizuführen. Dies geschah in einer Vielzahl von Schritten.
Neue Zielstellungen für die Entwicklung der südafrikanischen Gesellschaft setzten sich bei den meisten Beteiligten durch. Die Angst vor der Entfesselung aufgestauter Aggression und Zorn mag die Triebfeder gewesen sein beim Versuch eines friedlichen Vorgehens.
Der Ausnahmezustand wurde aufgehoben. Der ANC beendete den bewaffneten Kampf, im Gegenzug sollte die Regierung alle politischen Gefangenen freilassen. Oliver Tambo, Präsident des ANC, kehrte nach dreißigjährigem Exil nach Südafrika zurück (4). 1991 wurden in der Provinz Transvaal zum ersten Mal Grundschulen für schwarze Kinder geöffnet. Die Regierung verkündet eine Amnestie für rund 1800 im Exil lebende Südafrikaner. Die Europäische Gemeinschaft hob die Wirtschaftssanktionen, die allerdings nie als einschneidende Maßnahmen griffen, auf. Am 5. Juni 1991 schaffte das Parlament in Kapstadt die Gesetze über die nach Rassen getrennten Wohngebiete (Group Areas Act) und über den Bodenbesitz (Land Act) ab.
Die Parlamentswahlen im April 1994, an denen die schwarze Bevölkerung teilnehmen konnte, markierte das Ende der Rassentrennung. Der ANC ging zwar als überragender Sieger aus der Wahl hervor, bildete aber eine Regierung der Nationalen Einheit. Sie bestand aus dem ANC, der früheren Apartheidspartei National Party und der Inkatha Freedom Party. Nelson Mandela wurde am 10. Mai 1994 zum Staatspräsidenten Südafrikas gewählt.
Die Freiheit finden
In seiner Autobiografie “Long Walk to Freedom” (Der lange Weg zur Freiheit), deren Inhalt zu einem Großteil in der Haft verfasst wurde, schreibt Mandela:
(…) Während der langen, einsamen Jahre in Haft wurde aus meinem Hunger nach Freiheit für mein eigenes Volk der Hunger nach Freiheit aller Völker, ob weiß oder schwarz. Und ich wusste so gut, wie ich nur irgendetwas wusste, dass der Unterdrücker genauso befreit werden musste wie der Unterdrückte. Ein Mensch, der einem anderen die Freiheit raubt, ist ein Gefangener des Hasses, er ist eingesperrt hinter den Gittern von Vorurteil und Engstirnigkeit. (5)
Unsere menschlichen Regungen sind objektiv durch die Naturgesetze bestimmt und subjektiv durch unser Selbstbewusstsein gewollt. Sie sind also bewusst zu verantworten, aber sie sind auch triebmotiviert und deshalb zu rechtfertigen. Das Ziel menschlichen Wirkens ist die ständige Vervollkommnung unserer Wirklichkeit, sein Inhalt ist die Gestaltung natürlicher Gegebenheiten und kultureller Möglichkeiten, methodisch muss dazu und dafür das in objektiver Wahrheit vorhandene, unendlich mannigfaltige Potenzial ergründet und in seiner Verwirklichung verwendet werden – so wie das Potenzial des begnadeten Chirurgen Barnard und jenes des Aktivist Mandela.
Es ist notwendig, da die Menschheit vor der gewaltigen Herausforderung steht, das Ökosystem Erde und das menschliche Dasein zu bewahren, was gelingen kann, durch solidarisches Zusammenwirken. Dies ist grundlegend möglich, wenn Menschen respektvoll und frei von Vorurteilen miteinander umgehen und neue Aspekte und Blickwinkel zulassen. Erkenntnisse, Gedanken und Meinungen auszutauschen und die Freiheit dem Gegenüber zuzubilligen, dies erlaubt Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten, die uns allen den Weg in eine bessere Zukunft zeigen können. Was ist los in der Welt? Warum ist das so? Und wie können wir unsere Ziele erreichen? Es klingt schlicht, vielleicht naiv, aber einfach ist der Weg zur Freiheit dennoch nicht …
Quellen und Anmerkungen
(1) Christiaan Barnard (1922-2001) war Herzchirurg und ein Pionier auf dem Gebiet der Herztransplantationen. Am 3. Dezember 1967 führte ein medizinisches Team unter seiner Leitung am Groote Schuur Hospital in Kapstadt die weltweit erste Herztransplantation durch. Der Patient Louis Washkansky erhielt das Herz der bei einem Autounfall verunglückten Denise Darvall. Washkansky überlebte die Operation, starb aber 18 Tage später an den Folgen einer Lungenentzündung. Um Abstoßungsreaktionen seines Körpers auf das fremde Organ zu verhindern, war sein Immunsystem weitestgehend außer Kraft gesetzt worden.
(2) Nelson Mandela (1918-2013) war ein südafrikanischer Aktivist im Widerstand gegen die Apartheid, Politiker und von 1994 bis 1999 der erste schwarze Präsident seines Landes. Mandela hatte sich seit 1944 im African National Congress (ANC) engagiert. Gewaltlosen Widerstand sah er als taktisches Mittel an.
Im März 1960 wurden beim sogenannten Massaker von Sharpeville 69 unbewaffnete Demonstranten, darunter Frauen und Kinder, von Polizisten erschossen, bis zu 300 Menschen wurden verletzt. Der ANC und andere Anti-Apartheid-Gruppen wurden verboten. Mandela unterstützte nun die vom ANC proklamierte Notwendigkeit des gewaltsamen Kampfes gegen die Apartheid. Im Dezember 1961 wurde er Anführer des Umkhonto we Sizwe („Der Speer der Nation“), dem bewaffneten Flügel des ANC.
Aufgrund seiner politischen Aktivitäten wurde Mandela mehrfach von Richtern des Apartheidregimes verurteilt. Im Juni 1964 erhielt er wegen Sabotage und Planung bewaffneten Kampfes eine lebenslange Haftstrafe. Insgesamt verbrachte Mandela 27 Jahre im Gefängnis.
(3) Frederik Willem de Klerk (Jahrgang 1936) war von 1989 bis 1994 Staatspräsident der Republik Südafrika. Zusammen mit Nelson Mandela erhielt er 1993 den Friedensnobelpreis.
(4) Oliver Tambo (1917-1993) war Lehrer, Anti-Apartheids-Politiker und eine der zentralen Personen des African National Congress (ANC). Nach dem Verbot des ANC organisierte er im Ausland eine internationale Opposition gegen die Apartheid. In Tansania wurde unter seiner Beteiligung ein Ausbildungszentrum für ANC-Kämpfer errichtet und das militärische Hauptquartier der Organisation angesiedelt.1967 wurde er Präsident des ANC. Erst 1990 kehrte er nach Südafrika zurück.
(5) Aus: Nelson Mandela: Der lange Weg zur Freiheit. Zitat übernommen von “Hunger nach Freiheit” auf https://www.kirche-im-swr.de/?page=beitraege&id=32545 (abgerufen am 5.4.2021).
Foto: Mike Von (Unsplash.com)
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Über die Kunst mit Trauer und Tod zu leben
(…) jenseits dessen stellen sich ernstere Fragen, die sich um unsere hochneurotische Beziehung zum Tod und die Unfähigkeit eines halbwegs gelungenen Trauerns drehen. Dieser Tod will partout nicht mehr so richtig zu einem gesellschaftlichen Modell passen, das auf Wachstum basiert, ständige Entwicklung und Steigerung, einer geisteskranken Scheinwelt des Miles and More und higher and higher.
Frank Nöthlich (Jahrgang 1951) wurde in Neustadt/Orla (Thüringen) geboren. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und sechs Enkelkinder. Er studierte Biologie, Chemie, Pädagogik, Psychologie und Philosophie von 1970 bis 1974 in Mühlhausen. Nach dem Studium war er an verschiedenen Bildungseinrichtungen als Lehrer tätig. Von 1985 bis 1990 war er Sekretär der URANIA-Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse. Später arbeitete er als Pharmaberater und ist heute Rentner und Buchautor (www.briefe-zum-mensch-sein.de). Er sagt von sich selbst, dass er als Suchender 1991 in der Weltbruderkette der Freimaurer einen Hort gemeinsamen Suchens nach Menschenliebe und brüderlicher Harmonie gefunden hat.