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Krieg & Frieden

Krieg und Coronoia

Es scheint, als seien die ersten Schritte der US-Administration in Sachen Konfrontationspolitik und militärischer Drohung, die von den hiesigen transatlantischen Gefolgsleuten euphorisch besungen werden, in ihrer harten Währung, dem Krieg, bei großen Teilen des von der Coronoia benebelten Publikums noch nicht so richtig erkannt worden.

Was für ein Debakel! Nun formuliert der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, den Wunsch seines Landes nach NATO-Mitgliedschaft. Es mutet an wie ein grausiges Déjà-vu. So als hätte es den vergeblichen Versuch 2014 nicht gegeben, mit der Ukraine das letzte Glied in die Kette mit aufzunehmen, die die Einkreisung Russlands schließt.

Doppelte Standards auf allen Ebenen

Ein Blick in die jüngere Geschichte genügt, um die ganze Perfidie und Verlogenheit ins Gedächtnis zu rufen, mit der das Entgegenkommen Russlands bei der Beendigung des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung Deutschlands seitens der USA und ihrer sich als Mündel benehmenden Staaten beantwortet wurde.

Keine Osterweiterung der NATO, hieß es da. Man sehe sich die Landkarte heute an. Vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer stehen die Truppen der NATO bereit, jeweils an der russischen Grenze.

Man stelle sich ein ähnliches Szenario einmal jenseits des Atlantiks vor. Russische Truppen in Kanada, in Mexiko, in der Karibik.

Es ist kaum zu glauben, dass die USA lediglich mit Truppenbewegungen auf dem eigenen Territorium antworten würden, was momentan als eine Bedrohung und aggressiver Akt auf der anderen Seite Russland vorgeworfen wird. Da werden Truppenkonzentrationen und Truppenbewegungen auf russischem Hoheitsgebiet als einen Krieg vorbereitende Handlungen interpretiert.

So ist das. Doppelte Standards auf allen Ebenen. Von Assange bis Nawalny, der Kotau vor der Türkei und Saudi Arabien und die scharfe Verurteilung der Vorkommnisse in Hongkong, der geduldete Genozid im Jemen und die Klage gegen das Schicksal der Uiguren (1). Es ist das alte Lied: Wer seine Freunde wüten lässt, darf sich über den Spott der vermeintlichen Feinde nicht wundern.

Krieg und Frieden

Das, was nicht nur auch, sondern gerade der neue US-amerikanische Präsident in der kurzen Phase seiner Amtszeit bereits an Säbelrasseln gegen die “Feinde der Demokratie” von sich gegeben hat, lässt keinen Raum mehr für Vermutungen, sondern liefert ein nüchternes Faktum: Die alten Feindbilder werden befeuert und, von seiner strategischen Wirkung noch schlimmer, die Grundsätze der Diplomatie, die seit dem Westfälischen Frieden der globalen Zivilisation einen Schub verliehen haben, werden nicht mehr angewendet (2).

Der Dreißigjährige Krieg hatte die Beteiligten zu der Erkenntnis kommen lassen, dass die Verhandlungen zwischen Staaten unterschiedlicher Wertvorstellungen von einem Ausgleich der Interessen geleitet werden müssen, und nicht durch den Versuch, das eigene Weltbild zum allumfassenden Maßstab zu machen. Das hat immer wieder funktioniert, bis auf die Feldzüge des Kolonialismus sowie Nationalismus, Chauvinismus und Faschismus.

Wissen die Akteurinnen und Akteure, die sich heute dem Kurs des vermeintlich politisch korrekten Imperialismus verschrieben haben, in welches Geschichtskapitel sie sich da eintragen? Die Antwort ist unerheblich, denn der augenscheinliche Revisionismus hat das Urteil bereits gefällt.

Benebelt von Coronia

So, wie es scheint, sind die ersten Schritte der neuen US-Administration in Sachen Konfrontationspolitik und militärischer Drohung, die von den Chorknaben der hiesigen transatlantischen Gefolgsleute euphorisch besungen werden, in ihrer harten Währung, dem Krieg, bei Großteilen des von der Coronoia benebelten Publikums noch nicht so richtig erkannt worden.

Das kann, wenn man sich die Psychostruktur der handelnden Akteure genau vor Augen führt, mit großer Wahrscheinlichkeit zu deren Fehlschluss führen, das Schweigen bedeute Zustimmung. Jenseits der irren Vorstellung, man könne Kriege noch gewinnen, könnte diese Selbsttäuschung allerdings noch zu einem bösen Erwachen führen. Was nicht das Schlechteste wäre.


Quellen und Anmerkungen

(1) Süddeutsche Zeitung (12.3.2021): Verbrechen ohne Echo. Auf https://www.sueddeutsche.de/meinung/china-uiguren-1.5233927 (abgerufen am 10.4.2021).

(2) Der Westfälische Friede (auch: Westfälische Friedensschluss) bestand aus einer Reihe von Friedensverträgen, die geschlossen wurden zwischen dem 15. Mai und dem 24. Oktober 1648 in Münster und Osnabrück. Sie beendeten den seit 1618 tobenden Dreißigjährigen Krieg im Heiligen Römischen Reich und den Achtzigjährigen Unabhängigkeitskrieg der Niederlande.


Foto: Sam Moqadam (Unsplash.com)

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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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