Gibt es eine Generation Corona? Sicher nicht im sozialwissenschaftlichen Verständnis, weil es auch nicht “die Jugend” im Sinne einer Klasse von Gleichen gibt. Die Lebensumstände definieren die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht. Unten sammelt sich die ökonomisch abgehängte und politisch marginalisierte Masse, die unter den Anti-Corona-Maßnahmen leidet. Die Mitte, viel dichter am “Unten” als am “Oben” zittert vor dem Abstieg. Auch die Jugendlichen.
Forschung zur Generation Corona
Gast beim Podcast Reiner Wein ist der Wiener Sozialwissenschaftler und Jugendforscher Prof. Bernhard Heinzlmaier. Er hat ein Klassenbewusstsein. Um Einkommen zu erzielen, verwertet er sich in der Marktforschung. Aus Interesse und weil es gesellschaftlich wichtig ist, setzt er sich praktisch “for free” wissenschaftlich mit Jugendkultur auseinander, wie er sagt. Beide Tätigkeitsfelder haben inhaltlich und handwerklich kaum Berührungspunkte.
In seiner neuesten Studie zur Jugend im Corona-Lockdown konnte Heinzlmaier feststellen, dass es beim Umgang mit den Anti-Corona-Maßnahmen und den Auswirkungen große Klassenunterschiede gibt. Während Jugendliche aus dem oberen Gesellschaftsdrittel kaum betroffen sind, die Muße genießen und die Maßnahmen der österreichischen Regierung weitestgehend mittragen, sind Jugendliche der Mittel- und Unterschicht wirtschaftlich und persönlich stark betroffen.
Der Mensch wird zur Ware seiner selbst
Reiner Wein, der politische Podcast aus Wien. Gast: Bernhard Heinzlmaier
Die Mitte hat Angst, abzusteigen – und reagiert zum Beispiel mit Bildungsparanoia: Eltern versuchen, ihre Kinder zu einem möglichst hohen Bildungsgrad zu motivieren, um dem gesellschaftlichen Abstieg zu entgehen. Die Unterschicht hat sich großteils damit abgefunden, nicht mehr aufsteigen zu können, so wie man es auch in Hartz-IV-Milieus in Deutschland beobachten kann.
Das größte Problem für Jugendliche (vor allem jene in der Pubertät) ist der Verlust der Gleichaltrigengruppe: In der Auseinandersetzung mit seinen Freunden lernt man den gesellschaftlichen Umgang inklusive Konkurrenzprinzip, aber auch die Abnabelung vom Elternhaus Richtung persönlicher Eigenständigkeit.
Der gescheiterte Individualismus
Die Studie habe gezeigt, dass digitale Kommunikation den realen Umgang mit Menschen nicht ersetzen kann. Langes Alleinsein – besonders im Jugendalter – wirkt sich (höchst wahrscheinlich) negativ auf die Entwicklung des jungen Menschen aus: Depression und Ängstlichkeit überlagern Selbstbewusstsein und Risikofreude.
In der Krise hat die soziale Ungleichheit stark zugenommen. Die unteren Schichten leben meist in engen Wohnverhältnissen und sind oftmals in ihrer ökonomischen Existenz bedroht – beides hat teilweise dramatische Auswirkungen, die von psychischen Überlastungen bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen reichen.
Eine der Lehren aus der Krise sei es, so Heinzlmaier, dass den Menschen (vor allem in den beiden unteren Schichten) gezeigt wurde, dass der Individualismus gescheitert sei. Viele würden sich nach kleinräumiger Gemeinschaft sehnen, nach nachbarschaftlicher Hilfestellung und Leben auf dem Land.
Solidarbeziehungen hätten sich als vernünftiger gegenüber Konkurrenzbeziehungen herausgestellt. Die Grenzen des Gemeinschaftssinnes ziehen die Menschen aber dort, wo die soziale Kontrolle der Gesellschaft überhandnimmt: Jedem muss ein gewisser individueller Spielraum zustehen.
Egoismus und Selbstoptimierung
In Bewegungen wie Fridays For Future, deren Mitglieder hauptsächlich aus dem oberen Gesellschaftsdrittel stammen, fänden sich dogmatische Wertvorstellungen. Eine Bereitschaft, mit Menschen anderer Schichten zu diskutieren, fehle oftmals; vielmehr würde versucht, diese zu zwingen, die Handlungsvorschriften widerspruchslos zu übernehmen. Mit demokratischem Dialog habe dies wenig zu tun.
In seinem Buch “Anpassen, Mitmachen, Abkassieren” hat sich Heinzlmaier bereits intensiv mit der Selbstoptimierung des Menschen beschäftigt. Den Machtmenschen, der alles nur noch deshalb tut, um in der Öffentlichkeit gut dazustehen, egal, welche Auswirkungen seine Handlungen in der Realität zeigen, macht er als Übel der heutigen Gesellschaft fest. Was auch immer in der Gesellschaft passiert: Alles wird zur Ware gemacht – mit dem Ergebnis, dass der Mensch zur Ware seiner selbst wird.
Zur Person

Bernhard Heinzlmaier (Jahrgang 1960) ist Sozialwissenschaftler, Unternehmensberater und Jugendforscher. Hauptberuflich leitet er das in Hamburg ansässige Marktforschungsunternehmen T-Factory. Er studierte Geschichte, Germanistik, Philosophie, Pädagogik und Psychologie an der Universität Wien und wurde nach dem Studium (Abschluss als Magister der Philosophie) wissenschaftlicher Leiter (und später auch Geschäftsführer) des Österreichischen Instituts für Jugendforschung. 1997 gründete Heinzlmaier die T-Factory (Markt- und Meinungsforschung), die Standorte in Wien und Hamburg hat. Seit 2003 ist er Vorstandsvorsitzender des österreichischen Institutes für Jugendkulturforschung und seit 2007 Mitglied des Vereins jugendkulturforschung.de e.V., der auf praxisorientierte nicht-kommerzielle Jugendforschung spezialisiert ist. Mehr Informationen finden sich auf der www.jugendkultur.at.
Fotos, Video und Audio: Joshua Coleman (Unsplash.com), Idealism Prevails und Reiner Wein
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