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Rezension

Eine Bilanz des Neoliberalismus: Die Revolution ist fällig, aber …

Unter dem Titel “Die Revolution ist fällig. Aber sie ist verboten” bewertet Albrecht Müller die Entwicklung der letzten Jahrzehnte.

Albrecht Müller, Jahrgang 1933, seinerseits ehemaliger Leiter von Willy Brandts Wahlkampf 1972 und Mitglied der Planungsabteilung bei den Kanzlern Brandt und Schmidt und Herausgeber der Nachdenkseiten, hat ein weiteres Buch veröffentlicht. Unter dem Titel “Die Revolution ist fällig. Aber sie ist verboten” lässt er quasi sein politisches Leben Revue passieren und bewertet die Entwicklung der letzten Jahrzehnte.

Der Siegeszug des Neoliberalismus

Anlass zu Optimismus geben seine Ausführungen nicht, aber sie eignen sich hervorragend als ein Kompendium über den Niedergang dessen, was einmal soziale Marktwirtschaft und der Sozialstaat genannt wurde. Die Demontage dieses Konstruktes, das einmal als ein Markenzeichen der Bundesrepublik Deutschland reklamiert wurde, lässt sich unter der Überschrift “Der Siegeszug des Neoliberalismus” sehr gut zusammenfassen.

Müller beschreibt anschaulich und plausibel, wie seit den 1980er-Jahren das Auseinanderklaffen der Besitzverhältnisse zu einer nachhaltigen Spaltung der Gesellschaft geführt hat, wie der Staat als Regulativ sozialer Ungerechtigkeit immer mehr zurückgedrängt wurde, wie die Besteuerung großer Vermögen sank und die Bedürftigkeit vieler stieg. Wie die Gesetzgebung zunehmend von Lobby-Verbänden formuliert wurde, wie mit dem Billiglohn-Sektor ein so genanntes Prekariat entstand, wie die Parteien von einem Ort der politischen Willensbildung zu Karrierevereinen mutierten und wie sich die Monopolisierung des Pressewesens auf dessen Rolle bei der Information der Bürgerschaft ausgewirkt hat.

Da kennt sich Müller bestens aus und da bringt er Beispiele, wie das journalistische Handwerk durch die Technik der Meinungsmache zerstört wurde.


Albrecht Müller. Die Revolution ist fällig. Aber sie ist verboten (Quelle: YouTube/Gerhard Mersmann)

Der Siegeszug des Neoliberalismus hat dazu beigetragen, dass der Begriff der Solidarität außer Mode geraten ist und sich eine Doktrin herausgebildet hat, die die Ellenbogengesellschaft präferiert.

Zu der inneren ökonomischen wie sozialen Spaltung der Gesellschaft kam die Renaissance des Kalten Krieges. Das, was letztendlich zu der Überwindung der Spaltung Deutschlands beigetragen hat, die damals so titulierte ‘Neue Deutsche Ostpolitik’, die der Maxime “Wandel durch Annäherung” folgte, wurde schon kurz nach der Wiedervereinigung abgelöst durch eine neue Phase der Konfrontation, die immer weiter geht und deren Ende nichts Gutes verspricht.

Kein Potenzial für eine Revolution

Nein, die Lektüre ist nicht dazu geeignet, Mut zu tanken, aber sie führt noch einmal in komprimierter Weise das Destruktionspotenzial der herrschenden Ideologie des Neoliberalismus vor Augen. Deshalb sei es erlaubt, diese Lektüre besonders jüngeren Leserinnen und Lesern zu empfehlen, um die Möglichkeit zu haben, das Desaster der letzten Jahrzehnte in seiner umfänglichen Wirkung zu betrachten.

Albrecht Müller verzichtet darauf, obwohl der Titel es suggeriert, eine Revolutionsperspektive zu zeichnen. Dazu fehlt das Potenzial, das heißt, weder starke Gewerkschaften noch Parteien sind zu verorten, die ihrerseits die Basis wie die Stärke hätten, um der Politik der unstillbaren Gier und sozialen Kälte Paroli bieten zu können.

Das, was der französische Ökonom Thomas Piketty, den Müller immer wieder zitiert, das sozialdemokratische Zeitalter genannt hat, ist Geschichte. Sich diese noch einmal vor Augen zu führen, trägt dazu bei, die Schimäre der Alternativlosigkeit zu der Politik des großen Geldes in Luft aufzulösen.

Restauration statt Revolution

Die Revolution, die Albrecht Müller in diesem Buch anspricht, wäre eher eine Restauration der sozialdemokratischen Periode. Das klingt verwegen und abseitig, weil Geschichte zwar immer wieder bestimmte Muster aufweist, wiederholen tut sie sich hingegen nicht. Dennoch sei die Lektüre all jenen empfohlen, die sich für politische Bilanzen interessieren.



Informationen zum Buch

Die Revolution ist fällig. Aber sie ist verboten

Autor: Albrecht Müller
Verlag: Westend (1. Edition; 7. September 2020)
Seiten: 192
ISBN-13: 978-3-86489-307-0


Foto, Cover und Video: Alex Blăjan (Unsplash.com), Westend Verlag und Gerhard Mersmann

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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Eine Antwort auf „Eine Bilanz des Neoliberalismus: Die Revolution ist fällig, aber …“

Hallo Herr Mersmann, verehrte Leser,
Jetzt startet ihr Beitrag mit einem schönen Bild aus ihrem Gewächshaus und dann sitzen Sie doch in ihrem Zimmer, schade, aber das nur nebenbei.
Es ist m.E. Praktisch unmöglich einen Kommentar zu einer Buchbesprechung zu geben, wenn ich es selber nicht gelesen habe, und ich habe es nicht gelesen. Aber was ich aus ihrem Beitrag und auch ihrer Leseempfehlung entnehme ist schon für geübte in diesem Gebiet. Wer unter der Ideologie des Neoliberalismus aufgewachsen ist, wird das gar nicht erkennen können, den das ist ja bereits ein Teil dieser menschenverachtenden Ideologie, diese Art der Kritikfähigkeit ist bereits aberzogen und auch nicht mehr erwünscht. Es ist bereits eine zweite Generation unter ihm aufgewachsen.
Die Unterwerfung als Freiheit oder auch Warum Menschen so etwas mitmachen von Patrick Schreiner sind für Gespräche mit jungen Leuten, also jünger als 50, m.E. Eine gute Basis, weil hier die Kernpunkte und das Leben im Neoliberalismus gut beschrieben sind.
Und eine Revolution… die hat die herrschende Klasse mit dieser Ideologie nicht vorgesehen. Das ist old School, wenn sich das junge Volk Politisiert, z.B. In Fridays for future oder ähnlichem, dann müssen wir, die Alten Ihnen dabei helfen. Der Jugend gehört die Zukunft, das Alte vergeht und das neue entsteht, weil erst damit schließt sich der ewige Kreislauf der Natur.
Doch nun Schluss für heute… im Bewusstsein der Einigkeit, des Rechts und der Freiheit, weil das ist des Glückes Unterpfand

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